Corona in Xinjiang: Lockdown mit Versorgungsproblemen
In einer Grenzstadt im Nordwesten Chinas berichten Bewohner von Hunger und medizinischer Unterversorgung. Die Behörden räumen Fehler ein.
In anderen Clips, gefilmt mit dem Smartphone, berichtet ein Vater unter Tränen, dass seine drei Kinder seit Tagen nichts mehr gegessen hätten.
Seit knapp anderthalb Monaten ist die Stadt Yining an der Grenze zu Kasachstan schon im Lockdown. Eine offizielle Notiz darüber gibt es nicht, denn in der ideologisch geblümten Sprache der Kommunistischen Partei handelt es sich dabei nur um eine „Ruhephase“ oder „statisches Management“. De facto jedoch kann ein Großteil der 400.000 Bewohner ihre Wohnungen nicht verlassen und ist auf staatliche Lebensmittellieferungen angewiesen.
Die Schattenseiten der chinesischen Coronalockdowns sind schon zur Genüge dokumentiert worden. Doch im Gegensatz zu zuvor abgeriegelten Metropolen wie Chengdu, Xian oder Shanghai haben es die Bewohner im abgelegenen Xinjiang um ein vielfaches schwerer, sich Gehör zu verschaffen.
Angeblich schon zwölf Tote wegen Lockdown
Seit über fünf Jahren hat Chinas Regierung in der muslimisch geprägten Region ein Lagersystem errichtet, in das sie Hunderttausende – möglicherweise über eine Million – Angehörige der uigurischen Minderheit weggesperrt hat, um sie politisch „umzuerziehen“.
Offiziell zur Terrorbekämpfung haben die Autoritäten einen repressiven Polizeistaat kreiert, der von der Bevölkerung zutiefst verinnerlicht wurde. Auch in Yining gehört das Gros der Bevölkerung ethnischen Minderheiten an, vor allem Kasachen und Uiguren.
Dementsprechend schwierig ist es, sich als Journalist ein unabhängiges Bild über die Lage vor Ort zu verschaffen. Doch deuten alle Anzeichen auf eine Tragödie: Radio Free Asia berichtet, in dem Landkreis seien mindestens ein Dutzend Menschen im Zuge des Lockdowns gestorben – in Folge von Hunger oder ausbleibenden Medikamenten. Das von der US-Regierung finanzierte Medium beruft sich dabei auf einen chinesischen Beamten. Doch lassen sich die Angaben nicht unabhängig überprüfen.
Doch ist mehr als offensichtlich, dass sich in Xinjiang die Exzesse der drakonischen Null-Covid-Politik Chinas wiederholen. Auf der Onlineplattform Weibo berichten Bewohner im Lockdown, dass die staatlichen Essenslieferungen nur unregelmäßig ankommen und nur aus Instant-Nudeln oder Brot bestehen würden.
Ohne PCR-Test keine Behandlung im Krankenhaus
Andere erzählen, dass Krankenhäuser auch in akuten Notfällen den Einlass von Patienten verweigern, wenn diese keinen aktuellen PCR-Test vorweisen können. Besorgte posten auch Fotos von ihren Wohnanlagen, deren Eingänge mit Planen abgeriegelt wurden: „Was sollen wir machen, wenn ein Feuer ausbricht?“, schreibt ein Nutzer.
Fast alle Schilderungen ähneln anekdotischen Erfahrungen, wie sie schon Bewohner in anderen chinesischen Städten im Lockdown gemacht haben. Auch wiederholt sich in Yining die obligatorische Bestrafung von Lokalbeamten: 19 Beamte wurden sanktioniert, weil sie es versäumt hätten, den Corona-Ausbruch zu verhindern und die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen. Das verkennt jedoch das Grundproblem: Es handelt sich nicht um individuelle Fehler, sondern um die Auswüchse eines inhumanen Systems.
Doch wird sich an der Coronastrategie vorerst wenig ändern. Je näher der 20. Parteikongress am 16. Oktober in Peking heranrückt, desto rigider wird die Nullcovidpolitik umgesetzt. So will es Staats- und Parteichef Xi Jinping, der seine politische Karriere beim Kongress mit einer umstrittenen dritten Amtszeit krönen will.
Ein Corona-Ausbruch darf diese Machtdemonstration auf keinen Fall stören: Schon jetzt darf nur nach Peking reisen, wer sich zuvor in einer Stadt aufgehalten hat, die seit sieben Tagen keinen einzigen Covidfall registriert hat. Dabei sind bereits über 30 chinesische Städte im teilweisen oder vollständigen Lockdown – so viel wie noch nie seit Beginn der Pandemie.
Yinings Behörden haben zumindest eingeräumt, dass es Fehler bei der medizinischen Versorgung gab. Man hat sich entschuldigt und der Bevölkerung Besserung versprochen. Für viele Betroffene sind solche Worte jedoch wenig wert. „Eure Entschuldigungen sind nutzlos! Was die Leute wollen, ist sehr einfach: Lösungen für das Problem“, schreibt ein User auf der Onlineplattform Weibo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen
Abtreibungsrecht in den USA
7 von 10 stimmen „Pro-Choice“
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut