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Kulturelles Corona-LochVirologie-Podcast statt Hörbuch

Sinnstiftung durch Literatur und Kunst? Nicht alle Aspekte des kulturellen Lebens sollten auf Pandemiewirtschaft umgestellt werden.

Mit einem Lufkissen und einem Buch lässt sich die Krise gut überstehen Foto: David Young/dpa

In Krisenzeiten wird unsere diskursive Energie, die gesamte Aufmerksamkeit, die Menschen sonst auf viele verschiedene Dinge verteilen, von einer Sache – der Krise – aufgesogen. Literatur und Feuilleton haben in solchen Momenten einen schweren Stand.

Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erzählte der Autor Jay Mc­Inerney, wie er in der New Yorker Wohnung des Romanciers Bret Easton Ellis eine Einladung für die Release-Party eines Buches gesehen habe und ihm erleichtert der Satz entschlüpft sei: „I’m glad I don’t have a book coming out this month.“ Er sei froh, dass er gerade kein Buch veröffentlicht habe. Ein Gedanke, der ihm angesichts der Ereignisse als egoistisch und trivial erschien, von dem er aber ahnte, dass der Kollege ihn verstehe. Niemand würde in dieser Woche über Romane reden.

Die Anekdote erinnert an die Situation, in der sich Kultur und speziell Literatur gerade befindet. Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus stellt eine existenzielle Krise dar, die alle Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Konzentration ist ein knapp bemessenes Gut, und auch die Qualität der Zeit als Bedrohungszeit hat sich verändert. Sie fühlt sich gleichermaßen bleiern und flüchtig an.

Die erste Lüge, die professionellen Leser*innen über diese Situation einfiel, war: Jetzt haben wir endlich Zeit zu lesen. Aber man hat nicht den Eindruck, als würde viel gelesen, zumindest nicht Romane oder Gedichte. Wenn überhaupt fließt die Lektüreenergie in die Refresh-Funktion unserer Browser – auf der Suche nach neuen Meldungen. Statt Hörbüchern hört man Podcasts mit Virologen, statt Filmen schaut man Pressekonferenzen.

Frühjahrstitel verschoben

Die Verlage haben dieses Aufmerksamkeitsdefizit deutlich zu spüren bekommen. Einige verschieben Teile ihrer Frühjahrsprogramme in den Herbst. In der Zeit wird Felicitas von Lovenberg, die Leiterin des Piper Verlags, mit den Worten zitiert: „Niemand möchte ins Corona-Loch fallen“, in eine „Zeit womöglich minimaler Aufmerksamkeit“.

Für das kulturelle Leben bedeutet das „Corona-Loch“ also vor allem eine aufmerksamkeitsökonomische Leerstelle. Die Freizeitressourcen und die emotionale Energie, die man aufbringen müsste, um ein Buch, einen Film oder eine Serie zu rezipieren, verrauchen in der alltäglichen Arbeit daran, die Bedrohung überhaupt zu verarbeiten.

Gerade hatte die Gesellschaft noch ein Reservoir an Debattenenergie

Es ist deshalb nicht überraschend, dass auch die Feuilletons teilweise auf Pandemiewirtschaft umgestellt haben. Es gibt Corona-Tagebücher, Corona-Fortsetzungsromane, Leselisten für die Quarantäne und literaturgeschichtliche Aufrisse der Seuchenliteratur. Auch aktualisierende Lektüren von Klassikern finden statt.

Für den Tagesspiegel etwa liest Gerrit Bartels noch einmal Thomas Manns „Der Zauberberg“, um dem eigentümlichen Zeitgefühl dieser Tage näherzukommen. Und in der FAZ widmet sich Claus Leggewie einer eingehenden Lektüre von Albert Camus’ „Die Pest“, auf dessen Erwähnung gerade kein Text im Feuilleton verzichten kann.

Erfordernisse der Bedrohung

Dazu kommen die zahlreichen Artikel, die darüber berichten, wie die Kultur im konkreten Sinne, das heißt vor allem finanziell, durch die Pandemie bedroht wird – wie der Buchhandel reagiert oder wie Theater und Kinos betroffen sind. Und nicht nur die Feuilletons haben sich auf die Krise ausgerichtet, auch die Kunst selbst stellt sich auf die Erfordernisse der Bedrohung ein.

Die ersten Corona-Songs lassen sich bereits anhören, unter anderem von U2-Frontmann Bono und der Band Die Ärzte. Lyrik und lyrics sind – im Gegensatz zur Prosa – schnelle Gattungen, und man kann gespannt sein, wie viele Texte dieser Art in den kommenden Wochen noch entstehen werden.

Gegen die Ausrichtung des literarischen Diskurses auf Pandemiewirtschaft ist auf qualitativer Ebene gar nichts einzuwenden. Man liest die Tagebücher, Artikel und Listen mit einer gewissen Bewunderung über die große Sinnstiftungsenergie, die durch die Krise freigesetzt wird. Gleichzeitig macht sich aber auch ein klaustrophobisches Gefühl diskursiver Einengung bemerkbar.

Alles, was nicht die Bedrohung betrifft, erscheint plötzlich unerheblich. Nachzügler etwa in der Debatte um die Veröffentlichung der Memoiren von Woody Allen – vor wenigen Wochen noch ein höchst gegenwärtiges Thema – wirken plötzlich seltsam historisch. Gerade hatte die Gesellschaft noch ein Reservoir an Debattenenergie, das in eine Kontroverse über Ästhetik und Ethik investiert werden konnte. Dieses Reservoir ist jetzt leer.

Den Wert unter Beweis stellen

Für die Feuilletons und die Literatur ist das ein Problem. Zwar scheint es zunächst so, als würden sie sich in der Krise in besonderer Weise bewähren, ihren gesellschaftlichen Wert unter Beweis stellen. Allerdings werden sie so auch auf die Frage nach ihrem Nutzen eingeschränkt. Die Krise führt zu einer herrischen Gegenwart, die von der Kultur einfordert, sich ihren Gegebenheiten unterzuordnen.

Denn in der aufmerksamkeitsökonomischen Mangelwirtschaft ist die Literatur auch in ruhigeren Zeiten immer ein Luxusgut, ständig bedroht von anderen Prioritäten. Und diese grundsätzliche Priorisierung zeigt sich nun in der extremen Form des „Corona-Lochs“, in das alle Veröffentlichungen fallen, die sich nicht der thematischen Zuspitzung auf die Bedrohung unterwerfen. Dem entspricht auf der nackten materiellen Ebene die Nachricht, dass Amazon gerade Bücher nur mit großen Verzögerungen ausliefert und stattdessen Gesundheits- und Haushaltswaren bevorzugt.

Prioritätensetzungen dieser Art lassen sich in Zeiten, in denen Leib und Leben so breitflächig bedroht sind und gesellschaftliche Strukturen ins Wanken geraten, kaum vermeiden. Da hilft auch ein trotziges Beharren darauf, dass Feuilleton und Literatur einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert haben, nichts. Lieber sollte man darauf hoffen, dass sich die Zeiten bald wieder ändern und die Aufmerksamkeitsressourcen, die gerade von existenziellen körperlichen Fragen beansprucht werden, wieder in kulturelle Fragen investiert werden können.

Feuilletons und Literatur sind eben nicht nützlich auf der gleichen Ebene wie Grundnahrungsmittel oder Beatmungsgeräte. Ihre relative Nutzlosigkeit ist ein Teil dessen, was ihren gesellschaftlichen Wert ausmacht.

Diskursive Verengung

Der Germanist Christoph Jürgensen hat in seiner Studie „Federkrieger. Autorschaft im Zeichen der Befreiungskriege“ gezeigt, wie sich Dichter und Kommentatoren in den europäischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in Zeiten einer diskursiven Verengung also, dem Primat des Nützlichen unterwarfen, indem sie eine Flut von patriotischen Liedern hervorbrachten, die dem Schwert die Leier gleichberechtigt an die Seite stellen sollte.

Diese Ausrichtung der Kultur auf die Kriegswirtschaft mag zwar ausgesprochen produktiv und in gewisser Weise auch effektiv gewesen sein – große Kunst hat sie nicht hervorgebracht. Auch wenn diese historische Analogie natürlich in vielfacher Hinsicht nicht funktioniert, führt sie vor Augen, was passieren kann, wenn sich Kulturschaffende vollkommen den Forderungen einer herrischen Gegenwart unterwerfen.

Ein sich regender Unwille über eine Überproduktion an Kommentaren und Analysen zur Pandemie, ein Vielzuviel an sogenannten „Hottakes“, ist in der gegenwärtigen Krise bereits zu verspüren. Statt gegen „Federkrieger“ richtet sich dieser Unwille gegen allzu beflissene „Diskursvirologen“.

Großen Ärger hat sich etwa der Theoretiker Giorgio Agamben durch seine machtkritischen Einlassungen zum Thema eingehandelt. Und als bekannt wurde, dass der hyperproduktive Publizist Slavoj Žižek bereits ein ganzes Buch zur Pandemie geschrieben und auf den Weg der Veröffentlichung gebracht hatte, ergoss sich in den sozialen Medien ein Fass aus Hohn und Spott über ihn. Die Autorin Merve Emre kommentierte ein Foto des Buchcovers auf Twitter mit den Worten: „Go – and I cannot stress this enough – fuck yourself.“ Diese unfreundliche Aufforderung wurde inzwischen über tausendmal gelikt.

Wie in ruhigen Zeiten

Es ist vielleicht eine gute Idee, der Stimmung, die dieser Unwille transportiert, zu folgen und nicht alle Aspekte des kulturellen Lebens auf Pandemiewirtschaft umzustellen. Stattdessen zeigt sich der Wert von Feuilleton und Literatur womöglich vor allem dort, wo sie auch in der Krise weiter das zu bieten vermag, was Menschen an ihr in ruhigeren Zeiten schätzen.

In den sozialen Medien etwa werden Lesungen gerade überall gestreamt, und auch ansonsten wird ein beeindruckender Aufwand betrieben, um das große Gespräch über Literatur, das sich unsere Gesellschaft leistet, im Bereich des Digitalen weiterzuführen.

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