Kultur und Sport in Kriegszeiten: Die große Vereinfachung
Zwischen Solidarität und einem Stellvertreter-Nationalismus drohen Kulturschaffende eine politische Unschuld zu verlieren – die sie nie hatten.
E s gibt, meiner bescheidenen Meinung nach, nur einen Satz, der unumstößlich und nachhaltig als vollkommen wahr erachtet werden kann. Dieser Satz lautet: Es ist kompliziert.
Fatalerweise ist der wahrste zugleich auch der unpraktischste Satz, jedenfalls wenn es um das richtige Leben geht. Jemand, der auf die Frage: Liebst du mich? die (vermutlich vollkommen wahre) Antwort gibt „Es ist kompliziert“, hat rein beziehungstechnisch wohl nicht die beste Wahl getroffen, und eine Richterin hat bei einem entscheidenden Schuldspruch allenfalls das Strafmaß als Spielraum für die allgemeine und besondere Kompliziertheit der menschlichen Beziehungen und ihrer Störungen. Und ist nun gar ein Krieg – wie sagt man? – „ausgebrochen“, so ist für ein „Es ist kompliziert“ schon gar kein Platz mehr.
Ich vermute, die Erkenntnis, die in der Frucht eines gewissen Baumes im Paradies lauerte, war ebendiese: Es ist kompliziert. Aber was ist das für ein Paradies, in dessen Mitte ein striktes Erkenntnisverbot steht und in dem ein zischelnder Verführer wenig hilfreiche Ratschläge erteilt? Nein, die Kompliziertheit war offenbar schon vorher da und das Paradies eine Falle oder, freundlicher formuliert, genau die Illusion, von der man sich verabschieden muss, um Mensch zu sein. So viel zur negativen Dialektik.
Sie steckt schließlich auch in einem kriegsbedingten Dilemma, was die mehr oder weniger utopisch-paradiesische Funktion der Kultur anbelangt. Dem demokratischen, humanistischen und kosmopolitischen Verständnis nach ist Kultur dasjenige Feld, auf dem sich Angehörige verschiedener Nationen, Kulturen, Religionen, Sprachen und Interessen treffen, um Dialog und Kooperation zu üben, auch da, wo auf anderen Feldern – Politik, Ökonomie, Ideologie etwa – Konkurrenz und Konflikt vorherrscht. Kultur wäre, natürlich neben vielem anderen, das Mittel, so viel von einander wissen zu können und so viel Gemeinsames in Vielfalt zu erkennen, dass sich Hass, Verachtung und Aggression verflüchtigen. Früher oder später.
Diese völkerverbindende, grenzüberschreitende, verständigungsinnige Idee von Kultur erhält derzeit einen schweren Dämpfer. Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, werden nicht nur die politischen und ökonomischen Beziehungen reduziert, sondern auch – vielleicht sogar mehr als die anderen – die kulturellen. Das Ausladen russischer Künstlerinnen und Künstler gehört so sehr zum politischen Konsens wie die Boykotte auf dem Gebiet des Sports – bis hin zum Ausschluss russischer Teilnehmer an den Paralympics. Man könnte sich nun standhaft auf die Verständigungsmetapher von Kultur und Sport zurückziehen und behaupten, da träfe es in aller Regel (sehen wir von einigen erklärten Putin-Parteigängern und Oligarchenlieblingen ab) nicht nur die Falschen, sondern es werde gerade ein Dialogfeld geschlossen, auf dem am ehesten noch Friedenshoffnungen, Kritik und Versöhnungsbereitschaft zu finden wären.
Georg Seeßlen ist freier Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „Coronakontrolle. Oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books.
Doch bei näherem Hinsehen wird auch das wieder eher kompliziert. Denn auch hinter einem Paralympics-Sportler aus Russland, dem wir persönlich die Erfüllung seines Traumes wünschen mögen, steckt so sehr wie hinter der Autorin, die uns Einblick in Alltag und Abgrund ihrer Gesellschaft verschafft, ein Heer von Bürokraten, systemtreuen Funktionären und Lobbyisten. Die Autonomie von Kultur und Kritik, wie sie für einen offenen Dialog vonnöten wäre, reicht offensichtlich im Krisenfall nicht weit. Genauer gesagt: Die Krise macht erst richtig deutlich, wie abhängig auch Kunst, Kultur und Sport von politischen und ökonomischen Strukturen sind. Und wie wenig der sprichwörtliche gute Wille und das mehr oder weniger diplomatische Geschick gegen diese Abhängigkeit vermag.
Dabei geht es nicht allein um den Ausschluss eines Landes aus den globalen Kulturnetzen. Auch die hiesige Kulturlandschaft droht in dem Niemandsland zwischen der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, die zur humanistischen Verpflichtung von Kultur gehört, und einem Stellvertreter-Nationalismus mit fatalen Untertönen die politische Unschuld zu verlieren. Oder genauer gesagt: Es wird deutlich, wie wenig sie diese je besessen hat. Negative Dialektik eben.
Das Dilemma von Kultur im Feld der Politik äußert sich derzeit noch an anderem Ort. So droht Italien damit, (unter anderem und ausgerechnet) das Goethe-Institut in Rom zu enteignen, um mit dem Erlös Opfer der nationalsozialistischen Besetzung des Landes zu entschädigen. Die politischen und juristischen Hintergründe dieses bizarren Streites sind in der Tat reichlich kompliziert, doch sehr einfach ist die Metapher: Es genügt eine Entscheidung an machtvoller Stelle, und aus einem Ort der Begegnung und der kritischen Arbeit an Geschichte wird ein Objekt der Entzweiung. Und wir – die „Kulturschaffenden“ – sitzen wieder in der Falle.
Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist Kultur dafür zuständig, Menschen und Gesellschaften den Umgang mit der Kompliziertheit von Welt und Geschichte zu ermöglichen. Kein Wunder also, dass sie von bestimmten Menschen und Institutionen so gehasst wird. Umgekehrt nämlich ist Politik offenbar nie zu denken ohne das Versprechen der großen Vereinfachung. Der politische Druck auf Kultur wächst in Zeiten der Krise. Doch es gibt einen Punkt der freiwilligen wie der erzwungenen Vereinfachung, an dem wir nicht mehr von Kultur, sondern von Propaganda sprechen sollten.
Aber vielleicht verhält es sich ja so, dass jede Künstlerin und jeder Künstler schon von einem dunklen Schatten, seiner oder ihrer Instrumentalisierung in Politik und Ökonomie, begleitet wird. In der Krise wird dieser Schatten übermächtig. Und der Satz „Es ist kompliziert“ muss verboten werden. So oder so. Auch die Vertreibung aus dem Kultur-Paradies offenbart eine große Illusion.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen