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Kulinarischer Schwanzvergleich

Zum 89. Mal ist sie erschienen, die Bibel der Spitzengastronomie: der Guide Michelin. Eigentlich ist er längst ein Relikt vergangener Zeit. Doch sein marktbestimmender Einfluß ist ungebrochen. Eine Kritik  ■ von Wolfgang Abel

Alljährlich, wenn der neue Guide Michelin erscheint, bekommen die Virtuosen der Mousse eine Gänsehaut. In Frankreich war es jetzt wieder soweit. Wie immer löste die aktuelle Ausgabe des kulinarischen Kamasutras starke Hitzewallungen im Gastromilieu aus. Den Pneuspezialisten aus Paris gelingt es stets aufs neue, die kulinarische Tragödie aufs äußerste zu verdichten. Der kleine Tod in der Gaumenhöhle wird mit Sternen klassifiziert, ohne schmückende Worte, dafür endgültig. Ein Stern verspricht soliden Hochgenuß, drei Sterne stehen für das mutmaßlich Äußerste: multiple Aromen, Transzendenz, jähe Angst vor dem Sturz.

Ob Michelin, Gault-Millau oder Robert Parkers Weinguide: Gebrauchsanleitungen zum Genuß haben Konjunktur. Die grau gewordenen Panther des Gastrojournalismus reportieren die Urteile so ergeben, als handele es sich um eine päpstliche Enzyklika. Die feinschmeckende Herde trottet hinterher. Vom Michelin markierte Wege müssen freilich nicht die reizvollsten sein.

Mich macht der Michelin schon deshalb nicht an, weil mit dem ersten Stern die Gläser ausgewechselt werden und die Preise anziehen. Der Zahnarzt von nebenan richtet nun sein Weihnachtsessen hier aus. Mit einem Mal kommen Gäste, die ich vorher nie gesehen habe. Er trägt ein schnittiges Verkaufsleiterbärtchen, sie fühlt sich in ihrem Escada-Kostüm noch etwas eingeklemmt. Die beiden sagen zum Koch solche Sätze: „Wir kommen mit großen Erwartungen zu ihnen.“

Der Kellner steht stramm bei Tisch. Die Gastgeberin faßt sich bei der Begrüßung jetzt öfter an den Hals, wo ihre roten Flecken – vegetative Dystonie – seit dem ersten Stern deutlich größer geworden sind.

Mir schmeckt der Michelin nicht, weil mit dem zweiten Stern die Weinpreise für Gewohnheitstrinker bedrohliche Ausmaße annehmen. Zum Ausgleich wird der Gast mit relaxierender Hintergrundmusik betäubt, wie sie auch in Wartezimmern taktvoll praktizierender Urologen verabreicht wird. Zudem möchte ich von niemandem Imponierformeln wie diese hören: „Ich schicke Ihnen sofort einen unserer beiden Sommeliers vorbei.“

Spätestens mit dem zweiten Stern hält eine Klasse von Gästen Einzug, die der Kultur des kulinarischen Schwanzvergleichs frönt: „Neulich bei Laferotti waren die Taubenbrüstchen aber eine Spur saftiger.“ Später am Abend stochert ein Paar in seinen Dessertvariationen, auf der Suche nach der Lust von gestern. Ich kenne den Koch eines Zweisternerestaurants, der geht am freien Tag Schnitzel essen. Sein gutes Recht. Aber warum sieht er in seiner Küche nie so glücklich aus wie beim Schnitzelessen? Und warum sehen seine Gäste nicht so glücklich aus wie beim Schnitzelessen?

Mir schmeckt der Michelin nicht, weil ich nicht verstehe, weshalb ein Dreisternerestaurant seinen Gästen weiße Plastikmonoblocks als Sitzgelegenheit zumutet. Die Stühle, die einen Bruchteil des Aperitifs kosten, der auf ihnen getrunken wird, stehen im Garten der „Auberge de Ill“ im elsässischen Illhäusern. In einem der höchstglorifizierten Restaurants der Welt sind sie zu finden, unter Trauerweiden.

Die Gäste der Auberge kommen von weither, Paare auf der Suche nach dem Verwöhnaroma, Geschäftsleute nach Diktat, passionierte Gourmets. Einer von ihnen hat mir erzählt, daß der Besuch in den fünfziger Jahren immer sehr amüsant war. Als Klassiker gab es damals ein Viertel Hähnchen, dazu Pommes von der frischen Kartoffel und einen wunderbaren Salat. Nach dem Mahl ging es vom Restaurantgarten zu einer Kahnpartie, wobei das Bootle auch mal umkippen konnte – wegen der Damen und des Rieslings. Heute entern die Gäste nach dem Essen ihre Autos, und die Hersteller geben sich alle Mühe, daß nichts mehr umkippen kann.

Der Michelin-Führer und all die anderen Erbsenzähler-Guides schmecken mir schon deshalb nicht, weil wirklich welthaltige Plätze in diesen Lifestyleprothesen nicht vorkommen. Da wäre zum Beispiel die „Berlin-Bar“ am Meia-Praia-Strand von Lagos in Portugal, wo man am Heiligabend Vinho Verde trinken kann, bis die Birne angeht. Oder das Restaurant „Beppa“ im Handelshafen von Imperia, Ligurien, wo es zur Vorspeise einen butterzarten lauwarmen Tintenfischsalat gibt, während draußen ein rostiger russischer Frachter an der Mole dümpelt. Oder die „Krone“ in Freiamt im Breisgau, wo der Wildfasan noch persönlich vom Wirt gerupft wird, damit die zarte Haut der Brüste unversehrt bleibt. Alles Höhepunkte. Alles keinen Stern wert. Gut so.

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