Künstlerin und Autorin Cemile Sahin: Bang! Bêrîtan! Cut!
Cemile Sahin ist bildende Künstlerin, Filmemacherin, Buchautorin. Ihr Roman „Kommando Ajax“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Zoom auf Cemile Sahin. „Kommando Ajax“, der dritte Roman der 35-jährigen Schriftstellerin, Filmemacherin und Künstlerin wurde vor Kurzem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Im WhatsApp-Call sagt Sahin: „Für mich sind alle meine Bücher verbunden.“ Das gemeinsame Thema? „Macht, Gewalt und Kurdistan.“
Studiert hat Sahin Kunst in London und Berlin, wo sie heute lebt. Erst 2018 absolvierte sie an der Universität der Künste in der Malerei-Klasse von Mark Lammert ihren Abschluss. Dabei macht Sahin fast alles, nur keine Malerei: Filme, Bücher und Ausstellungen.
Ihre letzte Schau war kürzlich unter dem Titel „Road Runner“ in der Berliner Dependance der Blue-Chip-Galerie Esther Schipper zu sehen, die sie als Künstlerin vertritt. Zentral für diese bunte Inszenierung mit Sogwirkung war das titelgebende Video. Das spielt in einer dystopischen Zukunft, in der Killerdrohnen die Kontrolle übernommen haben. Protagonistin ist eine Frau mit dem kurdischen Namen Bêrîtan, die in der Virtual Reality darum kämpft, ihre Schwester aus der digitalen Gefangenschaft zu befreien.
An den Wänden waren blaue Großbuchstaben angebracht, sie erinnerten an die monumentalen Textbilder der feministischen Konzeptkünstlerin Barbara Kruger: „The language of power is / The language of precision“. Außerdem zu sehen war eine Serie von Aluminiumpaneelen mit bunten Bildern und Slogans in Schreibschrift, die Sahin mit KI erstellt hat: ein roter Lippenstift, ein pinkes Auto, ein goldenes Messer.
Cemile Sahin: „Kommando Ajax“. Aufbau Verlag, Berlin 2024, 352 Seiten, 25 Euro
Sahins Ausstellungen sind laut und grell, wie in einem Actionfilm. Popkultur trifft auf Videogames, fiktive Werbespots, Musikvideos, Science-Fiction-Filmklassiker, Fotos aus der Kriegsberichterstattung. Ihre visuelle Sprache brennt sich ein, sie aktiviert alle möglichen Fragmente aus dem kollektiven (pop-)kulturellen Gedächtnis.
Erzählungen über Gewalt und Krieg
Gerade verläuft ihre Karriere so actionreich wie ihre Arbeiten: Ende März wandert die Ausstellung „Road Runner“ ins ICA nach Mailand, im Herbst eröffnet Sahin eine Einzelausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen, ihr erster Roman „Taxi“ soll verfilmt werden, gerade schreibt sie das Drehbuch. Sie war Stipendiatin der Jungen Akademie der Akademie der Künste, ist ars-viva-Preisträgerin für bildende Kunst, und für ihr Schreiben wurde sie mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeichnet.
Sahin ist 1990 in Wiesbaden geboren und aufgewachsen im kurdischen Tunceli, bis sie mit ihren Eltern wieder nach Frankfurt umsiedelte. Die Stadt im Osten der Türkei, in der Sahin ihre Kindheit verbracht hat, heißt kurdisch eigentlich Dersim. Erst 1936 wurde sie in das türkische Tunceli umbenannt – „Eiserne Faust“. Danach ließ Mustafa Kemal Atatürk, „Vater der Türken“ genannt, dort ein Massaker an den überwiegend alevitischen Kurdinnen und Kurden ausüben. Während des sogenannten Dersim-Aufstands wurden zahlreiche Menschen getötet. Danach verschärfte der türkische Staat die Repressionen.
Seitdem wird die Region überwacht, kulturelle und politische Ausdrucksformen der Alevit*innen, denen Sahins Familie angehört, werden unterdrückt. Ihre Kindheit war geprägt von Erzählungen über Gewalt und Krieg. Kurdisch, ihre Muttersprache, konnte Cemile Sahin erst wieder in Deutschland sprechen.
Wie nüchterne Anweisungen aus einem Drehbuch
Ihre Bücher, Filme und Ausstellungen sind hochpolitisch – sich selbst hält sie trotzdem gern raus aus ihrer Arbeit. Sahin will die Thematisierung des Kurdenkonflikts nicht aus der eigenen Biografie begründen. Ihre Sprache ist – vielleicht genau deshalb – entschieden klar und distanziert. Die Beschreibungen in „Kommando Ajax“ klingen wie nüchterne Anweisungen aus einem Drehbuch: „Diese Geschichte beginnt mit einem Scharfschützen. Zoom auf ihn. Es ist dieser Mann. Er hat den Hafen verlassen. Braune Hose. Braunes Hemd. Er steigt in einen VW ein. Grau.“
Fast meint man beim Lesen die Zoomgeräusche der Kamera zu hören. Sahin dirigiert, sie weiß genau, was sie will. Egal in welchem Medium. „Als ich mein letztes Buch abgegeben habe – ‚Alle Hunde sterben‘ –, hatte ich schon die Idee für die erste Szene für das neue Buch.“ Sprache verwendet sie wie eine Kamera, die Szenen umkreist, sich annähert und direkt draufhält. Close-up.
Die Kamera fährt heran, eine Tür wird geöffnet, es geht los: Ein Betonbauer wird bei seiner eigenen Hochzeit erschossen. So beginnt Sahin die Erzählung in „Kommando Ajax“. In dem Buch geht es um die kurdische Familie Korkmaz, fünf Brüder und eine Schwester, die aus Dersim, heute Tunceli – wo Sahin aufgewachsen ist –, ins holländische Rotterdam geflohen sind.
Die Brüder arbeiten auf dem Bau – noch eine Parallele mit Sahins Familie. Die einzige Schwester, Fatma, ist Putzfrau, „Premium-Putzfrau“, wie Sahin schreibt, weil sie im Besitz des Schlüssels für die Chefetage ist. Was wohl bedeutet, dass sie an den Wochenenden putzen kann, wann immer sie will.
Bis heute sind diese Werke alter Meister
Der zweite Krimi-Moment des Buchs, von dem aus Sahin die Geschichte entspinnt, ist ein waschechter Kunstraub, der sich 1990 in einem Museum in Boston ereignet hat: Als Polizisten verkleidet entwendeten damals zwei Männer Gemälde alter Meister im Wert von einer halben Milliarde US-Dollar. Bis heute sind diese Werke vermisst.
In Sahins Roman findet einer der Protagonisten zufällig drei dieser verschollen geglaubten Gemälde beim Renovieren des Hauses eines Geschäftsmannes. Der begeisterte Hobbymaler nimmt sie mit und lässt dafür drei seiner eigenen Werke da. Das hat Konsequenzen – und diese weiß Sahin in einer Mischung aus schnellem Krimi und einfühlsamer Migrationsgeschichte eindrücklich zu erzählen.
Dieses Ineinander von Realität und Fiktion ist typisch für Sahins Arbeit. „Ich schreibe über das, was ich erlebe.“ Wichtig ist ihr auch, dass ihre Freund*innen und ihre Familie ihre Kunst interessant finden. Wenn sie eine Textpassage nicht gut finden, überarbeitet sie den Abschnitt.
Schnelles Erzählen mithilfe von Bildern
Die Form, die Sahin für die Geschichte in „Kommando Ajax“ findet, ist durchaus ungewöhnlich. „Ich habe alle Bücher mit dem Gedanken geschrieben, später daraus Filme zu machen.“ Warum sie dann trotzdem erst Romane schreibt und nicht gleich Drehbücher? Weil sie das Material zuerst in seiner Gänze ausbreiten will, bevor sie es kondensiert.
Ihre Bücher sind für Sahin eine Art notwendiger Zwischenschritt, ein Produkt, das als Teil ihres facettenreichen Arbeitens, das keine Hierarchien zwischen den Medien kennt, entsteht – und das trotzdem für sich als eigene, innovative Romanform funktioniert: Sahin gliedert ihr schnelles Erzählen mithilfe von Bildern, auf denen informativer Text steht. Diese setzt sie im Buch ein wie Texttafeln in Filmen, um Orts- und Zeitangaben bei Rückblenden und Zeitsprüngen zu machen – „Ein paar Jahre zuvor“ oder „Rotterdam 1995“.
Diese Einblendungen rhythmisieren das sowieso schon schnelle Lesen. Die Dialoge stehen wie in Drehbüchern in direkter Rede. Sahin zieht gern kurze Verbindungen, nicht nur im Gespräch, sondern auch im Buch: „Geduld ist Präzision. Präzision ist Disziplin“ oder oft auch in Versalien: „ANGREIFER = WAFFE = WAFFE = FATMA“. So einfach kann das sein.
Keine Wendung zu viel
Sahin berichtet, dass in ihrem Arbeitsprozess immer erst die Idee für das Bild kommt und dann das Wort. Und das hallt nach: Ihre Wörter springen einen an wie Bilder, Schriftbilder, sie stehen für sich und sind gerade dadurch aufgeladen mit Bedeutung. Sahin setzt ihre Wörter bewusst, es gibt keine Wendung zu viel.
Sie erzählt, dass sie beim Schreiben von „Kommando Ajax“ viel gelacht hat. „Ich bin eigentlich ein sehr witziger Mensch.“ Und außerdem kann Humor manchmal als Coping-Strategie helfen, um mit einer Realität voll Gewalt und Krieg umzugehen.
Schon als Kind hat Sahin mit einer Mini-DV-Kamera gefilmt, eine Kunstlehrerin bestärkte sie später darin, sich am renommierten Central St. Martins College in London für die konzeptuelle Filmklasse zu bewerben. Heute verfügt Sahin über ein riesiges Archiv mit Videoaufnahmen. „Das ist super sortiert, ich bin ein organisierter Mensch.“ Die Hauptordner sind nach Jahreszahlen benannt, die Unterordner nach Themen. Sahin schreibt To-do-Listen, ihr Arbeitstag beginnt um 8 und sie geht früh ins Bett, denn die Künstlerin begreift ihre Arbeit als Handwerk: „Je mehr man macht, desto besser wird man.“
Mit dieser Überzeugung steht Sahin Bertolt Brecht nah, für den die Grundlagen des Schreibens und Theatermachens auch Übung und Technik waren. Ihr Professor in Berlin, Mark Lammert, der als erster das Manuskript für Sahins ersten Roman gelesen hat, steckte der Studentin Bücher von Brecht zu. Das Studium, während dessen sie nachts schrieb, finanzierte sich Sahin mit einem Job in der Ton- und Videoabteilung an der Volksbühne.
Über Brecht sagt Sahin: „Er ist einfach smart.“ Und so beginnt Kommando Ajax mit einem Zitat des kommunistischen Dramatikers: „An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns. An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns.“ Sahin arbeitet auf Letzteres hin.
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