Künstler Jeremy Deller: „Subkulturell bin ich Spätentwickler“
Inszeniert zwischen Pop und Kunst: Der britische Künstler Jeremy Deller über Geschichte, Arbeiterkultur und sein besonderes Verständnis von Blaskapellen.
taz: Herr Deller, was ist der Unterschied zwischen einem Ei und Margaret Thatcher?
Jeremy Deller: Da muss ich passen.
Die Premierministerin kann man nicht weich kochen.
Ist das ein deutscher Witz?
Leider nein, ich habe ihn dem Roman „GB 84“ des britischen Schriftstellers David Peace entnommen.
Geniales Buch! Peace ist damit eine dichte Beschreibung der britischen Gesellschaft Mitte der Achtziger geglückt.
Der Künstler: Jeremy Deller, geboren 1966 in London, gilt als einer der bedeutendsten Gegenwartskünstler Englands. 2004 gewann er den Turner-Preis, von 2007 bis 2011 gehörte er dem Kuratorenrat der Londoner Tate Gallery an. Deller macht immer wieder mit Reenactments wie der „Battle of Orgreaves“ (2001) und mit groß angelegten konzeptuellen Projekten von sich reden.
Das Konzert: „Acid Brass, the Groove that never stops“: Zusammen mit der Williams Fairey Brass Band aus dem nordenglischen Stockport gastiert Deller heute Abend beim Festival „Foreign Affairs“ der Berliner Festspiele. Das Album „Acid Brass“ ist beim Label Blast First erschienen.
Ich dachte, es wäre ein guter Aufhänger, um dieses Gespräch zu beginnen. Denn Sie beschäftigen sich in Ihrer Kunst ausführlich mit der Gesellschaftsrealität zu jener Zeit. Dem Buch von Peace sind Schwarz-Weiß-Fotografien aus Nordengland zur Zeit des Bergarbeiterstreiks von 1984 beigefügt. Darauf zu sehen sind Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Streikenden. Die Menschen wirken erschöpft. Aber Sie inszenieren diese Ereignisse heute weniger dramatisch, eher spielerisch.
Das spielerische Element ist meiner eigenen Reflexion über jene Zeit geschuldet. Mir fällt es auf diese Weise leichter, Geschichte zu schildern. Wenn Sie so wollen, dann mische ich dem Schwarz-Weiß von einst nun Farbe bei. Und ich injiziere Humor, ein menschliches Maß.
Erklären Sie mir bitte, warum Sie die „Battle of Orgreaves“, eine Feldschlacht die zur Zeit des großen Bergarbeiterstreiks 1984 zwischen Polizisten und streikenden Arbeitern stattfand, mit Tausenden von Statisten nachgestellt haben?
Orgreaves hatte Symbolcharakter. Denn dort überwand die Polizei mit neuen Methoden der Aufstandsbekämpfung nach stundenlangen Auseinandersetzungen die Streikpostenkette vor einer Kokerei, die blockiert wurde, um die Nachschubmöglichkeiten der Stahlindustrie lahmzulegen. Es war brutal, es gab viele Verletzte.
Normalerweise beschäftigen sich Reenactments mit weiter in der Vergangenheit zurückliegenden Ereignissen, etwa mit Ritterturnieren im Mittelalter. Umso seltsamer wirkt es, dass Sie sich auf ein Ereignis der jüngeren Geschichte stützen.
Die Vorkommnisse habe ich als Jugendlicher im Fernsehen verfolgt, sie haben mich nachhaltig geprägt. Ganz allgemein frage ich mich mit dem Reenactment: Wie lässt sich Geschichte darstellen? Was passiert mit uns, wenn wir Schlachten nachspielen? Und da kam mir Orgreaves als Beispiel für einen Bürgerkrieg in den Sinn. Ich wollte ergründen, was in den Leuten vorgeht, wenn Sie sich selbst in der Geschichte spielen.
Warum ist der Streik von 1984 politisch bedeutsam?
Er gilt in Großbritannien als Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Die Thatcher-Regierung wurde sich ihrer neoliberalen Ideologie bewusst, denn sie wollte die mächtigsten Gewerkschaften des Landes ausschalten, die dieser Ideologie im Weg standen. Es war eine Lehrstunde in Machtpolitik, und wir mussten verstehen lernen, dass sich der britische Staat nicht erweichen lässt.
Wie hat Ihr Land jene Jahre verarbeitet?
Ältere Briten, die ich kenne, haben immer noch Schwierigkeiten, darüber zu reden. Ich selbst kann unbefangener mit den Ereignissen umgehen, ich komme nicht aus Nordengland, und meine Familie war nicht direkt vom Streik betroffen. Aber bis heute ist der Bergarbeiterstreik von 1984 ein signifikanter Moment unserer Geschichte. Politisch, gesellschaftlich und kulturell ist er noch keineswegs aufgeklärt.
Mit meinem Reenactment wollte ich seine Geister wieder lebendig machen, an die Phantome der Erinnerung appellieren. Großbritannien ist ein toughes Land, und die Politiker, die heute an der Regierung sind, ähneln denjenigen der Achtziger.
Blaskapellen waren ein wichtiger Teil der Gewerkschaftsbewegung.
Jeder Industriezweig, ob Stahl oder Kohle, hatte seine eigenen Gewerkschaftsverbände, und die hatten wiederum in jeder Fabrik, in jedem Bergwerk eigene Blaskapellen. Ihr Wirken gehörte zur kulturellen Ertüchtigung der Arbeiter, wie man das früher nannte.
Und nun kommen Sie nach Berlin mit einer Firmenkapelle, die aber keine Gewerkschaftslieder spielt, sondern die Hits des Acid House in Blasmusikarrangements. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem großen Streik und der Explosion von Acid House und Rave-Kultur in Großbritannien?
Die Streikfront brach 1985 zusammen, und der Summer of Love, also die Explosion der Ravekultur, geschah nur kurze Zeit später, 1987. Man könnte also sagen, dass Acid House eine Antwort auf den Nihilismus der Thatcher-Jahre ist.
Waren Sie ein Raver?
Ein bisschen später, Anfang der neunziger Jahre, ging ich oft auf Raves.
Was änderte sich durch House und die Ravekultur?
Die Musik war härter als alles, was vorher war, der Groove hörte nicht mehr auf, und die Leute begegneten sich auf dem Dancefloor mit viel Respekt.
Und nun haben Sie die Williams Fairey Band aus Stockport überzeugen können, diesen popmusikalischen Quantensprung darzustellen.
Es ist eine Firmenblaskapelle, die Firma baute im Zweiten Weltkrieg Brücken und konstruierte Flugzeuge, das hat mir imponiert.
Einen Track, den Sie für Ihr Repertoire ausgewählt haben, ist „Voodoo Ray“ von A Guy Called Gerald, einem Houseproduzenten aus Manchester. Er landete damit 1987 ganz oben in den Charts. Die Musik lockt auch heute noch junge Housefans in Massen auf die Tanzfläche.
Stimmt, er ist überhaupt nicht gealtert, er bläst mich um, ich liebe diesen Track sehr.
Warum?
„Voodoo Ray“ klingt einfach fantastisch, er zwitschert so, wie es nur Acid House tun kann, und gleichzeitig ist der Sound sehr atmosphärisch.
Als Sie der Williams Fairey Brassband diesen und die anderen House-Tracks zum Arrangieren gegeben haben, wie haben die Musiker darauf reagiert?
Sie fanden den Sound interessant, denn sie kannten das musikalische Material vorher nicht, haben aber verstanden, was man in einem Bandkontext daraus machen kann und warum diese Tracks auch als Blasmusik-Arrangements funktionieren.
Wie verändert dies den Kontext von Rave?
Eine Blaskapelle kann keinen Club ersetzen, aber die Musik lässt sich prima adaptieren und direkt an die Zuhörer weitergeben, denn die Dynamik von Holzbläsern und Perkussionisten ist phänomenal. Das funktioniert dann auch im Konzert.
Was kam bei Ihnen zuerst: Pop oder bildende Kunst?
Pop, ich habe ihn zunächst im Fernsehen wahrgenommen, in der Sendung „Top of the Pop“. Subkulturell bin ich ein Spätentwickler, für Punk war ich zu jung, aber ich fand ihn spannend. Wie Menschen mit Musik umgehen, wie sie aussehen, wie sie sich dabei benehmen, interessiert mich. Und ich habe mich auch an Pop orientiert, weil ich dadurch selbst etwas über den Rest der Welt gelernt habe.
Popkultur ist ein Movens Ihrer Arbeit als bildender Künstler, Sie haben über Brian Epstein, den Manager der Beatles, geforscht und ein Werk über Fans von Depeche Mode gemacht.
Ja, ich stehe in einem engen Verhältnis zu Pop. Er findet vor der Haustür statt. Als Volkskultur ist er nicht auf geschlossene Räume wie Galerien oder Museen angewiesen, er ist weniger institutionell, sondern stärker in der Sphäre des Öffentlichen, in der Performance verankert. Und das inspiriert mich außerordentlich.
Sehen Sie sich in einer Ahnengalerie mit Figuren wie den Londoner Galeristen „Groovy Bob“ Robert Frazer, oder den Künstlern Peter Blake oder Richard Hamilton, die für die Beatles Cover designt haben?
Wissen Sie, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich in diesem Kontext überhaupt arbeiten darf. Um im Bild zu bleiben: Ich versuche nur, durchzukommen. Auf lange Sicht könnte es schon sein, dass ich Teil einer Bewegung sein werde, die es zwischen Pop und Kunst gibt. Und, klar, einen Künstler wie Peter Blake bewundere ich, weil er an einem aufregenden Moment der britischen Kultur beteiligt war.
Gelingt Acid Brass auch in Berlin auf der Bühne?
Keine Sorge, das wird kein Reenactment, sondern einfach ein Konzert, gehen Sie hin, amüsieren Sie sich, egal ob Sie die Original-Housetracks kennen oder nicht. Und das Beste: Ich komme nur zur Fragestunde auf die Bühne, ansonsten bleibe ich unsichtbar.
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