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Kritik an Journalisten-Tötung in GazaEin Mord wird zum Politikum

Die israelische Armee tötete den Journalisten Anas al-Sharif in Gaza. Nun wachsen Zweifel an den vermeintlichen Belegen einer Hamas-Mitgliedschaft.

War sich seit Juli 2025 bewusst, im Visier israelischer Streitkräfte zu stehen: Anas al-Sharif in Gaza-Stadt 2024 Foto: Dawoud Abu Alkas/reuters

Tunis taz | Nach der gezielten Tötung des palästinensischen Journalisten Anas al-Sharif durch einen Luftangriff der israelischen Armee herrscht im Gazastreifen und in diplomatischen Kreisen Empörung. In der Nacht auf Sonntag hatte eine Drohne das Medienzelt vor dem Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt ins Visier genommen, indem sich al-Sharif, vier weitere Journalisten des katarischen TV-Senders Al Jazeera sowie ein freier Journalist befanden.

Stunden zuvor hatte die Bombardierung begonnen: Am Freitag hatte das israelische Sicherheitskabinett die Eroberung von Gaza-Stadt beschlossen, die Journalisten hatten in den Stunden vor ihrem Tod von den zahlreichen Opfern berichtet, die in das Al-Schifa-Krankenhaus eingeliefert wurden.

Die israelische Armee (IDF) bestätigte am Montag den gezielten Angriff mit insgesamt sieben Toten. Al-Sharif galt als alleiniges Ziel des Angriffs, heißt es. Die IDF behauptet, Al-Sharif sei nicht nur Journalist, sondern auch Anführer einer Raketenzelle der Hamas. Er habe auch ein Gehalt von der Hamas bezogen, so die IDF.

Die Armee hat bereits im vergangenen Jahr mehrere Excel-Tabellen und Dokumente samt vermeintlichem Dienstgrad, ID- und Telefonnummer veröffentlicht, die beweisen sollen, dass al-Sharif seit Dezember 2013 aktiver Kämpfer des Ostdschabalija-Bataillons der Hamas gewesen sei. Verifizieren ließen sich die Dokumente bislang nicht, einige Medien halten sie für unglaubwürdig.

Fotos zeigen Anas al-Sharif zusammen mit Jahia Sinwar

Warum die israelische Armee al-Sharif erst jetzt tötete, bleibt unklar. Kritiker vermuten, dass damit eine wichtige journalistische Stimme aus Gaza zum Schweigen gebracht werden soll. Sein Arbeitgeber Al Jazeera weist die Vorwürfe vehement zurück und fordert wie der UN-Generalsekretär António Guterres eine unabhängige Untersuchung.

Der 28-jährige al-Sharif studierte an der Al-Aksa-Universität in Gaza Journalismus und berichtete seit dem Einmarsch der israelischen Armee in den Gazastreifen Ende Oktober 2023 immer wieder direkt aus dem Kampfgeschehen. Zwischen Casablanca und Bagdad liefen seine Aufsager vor der Kamera seit zwei Jahren fast täglich auf den Mobiltelefonen unzähliger Zuschauer. 2024 war er Teil eines Reuters-Teams, das in der Kategorie „aktuelle Fotoberichterstattung“ mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.

Mehrere Fotos zeigen Anas al-Sharif zusammen mit dem im Oktober 2024 getöteten Hamas-Anführer Jahia Sinwar sowie anderen ranghohen Funktionären. Laut der britischen BBC arbeitete al-Sharif vor dem aktuellen Krieg für ein Medienteam der Hamas.

Auch ein Screenshot eines angeblichen Beitrags von seinem offiziellen Telegram vom 7. Oktober 2023, dem Tag des Hamas-Überfalls auf Israel, macht seit seiner Tötung in den sozialen Medien die Runden. „9 Stunden und die Helden ziehen immer noch durch das Land, töten und nehmen Gefangene…Gott, Gott, wie großartig ihr seid“. Das soll er am Nachmittag des Angriffs geschrieben haben, samt drei grüner Herzen – die Farbe der Hamas.

Vorwürfe der IDF gegen al-Sharif sind unbestätigt

Viele User spekulieren darüber, dass der Screenshot ein gezielter Fake sein könnte, um al-Sharif zu diskreditieren. Der Beitrag ist auf seinem Telegram-Kanal zwar nicht auffindbar, wurde aber offenbar durch die Waybackmachine archiviert. Dieselbe Nachricht veröffentlichte al-Sharif scheinbar im Gruppenchat des Telegram-Kanals ungefähr zur selben Zeit des Screenshot-Beitrags – und diese ist bis heute über einen offiziellen Telegram-Link öffentlich einsehbar.

Bestätigen lassen sich die Vorwürfe der IDF gegen al-Sharif jedoch bislang nicht. Deshalb werden die Forderungen einer unabhängigen Untersuchung immer lauter. Viele sehen in den Vorwürfen der IDF lediglich den Versuch, einen Journalisten zu Unrecht als Terroristen zu brandmarken, um von dem Tod von laut Reporter ohne Grenzen mehr als 200 Journalisten im Gazastreifen seit Kriegsbeginn abzulenken.

Unter vielen UN-Diplomaten herrscht Einigkeit: Der Angriff auf das Pressezelt vor dem Al-Schifa-Krankenhaus erfülle den Tatbestand eines Kriegsverbrechens. Sollte die israelische Regierung keine von unabhängigen internationalen Organisationen verifizierte Dokumente vorlegen, würden Richter in den Haag aktiv werden, heißt es.

Die UN-Vertreter Algeriens, Chinas, Russlands verurteilten am Montag explizit den Angriff auf Anas al-Sharif und seine Kollegen scharf. Europäische Diplomaten riefen die israelische Regierung allgemein zur Zurückhaltung auf.

Live-Schaltung aus einem Flüchtlingslager in Gaza

Die Regierung in Washington war vor dem Angriff von der israelischen Regierung sogar informiert worden, heißt es – und schwieg. Ein Indiz dafür, dass man sich in Jerusalem bewusst war, welche gravierenden Auswirkungen der Angriff auf die weltweite Wahrnehmung des israelischen Vorgehens haben würde.

Anas al-Sharif war sich spätestens seit Juli bewusst, im Visier israelischer Streitkräfte zu stehen. Am 24. Juli kritisierte die amerikanische Organisation Committee to Protect Journalists (CPJ) den IDF-Pressesprecher Avichay Adraee für dessen Vorwürfe, al-Sharif hätte als Hamas-Kämpfer vor dem Krieg rund 200 Euro pro Monat erhalten und sei ein Terrorist.

Kurz zuvor hatte al-Sharif eine tränenreiche Live-Schaltung aus einem Flüchtlingslager in Gaza voller hungernder Familien die Klickzahlen der arabischen Al-Jazeera-Website in die Höhe schnellen lassen.

„Wir sind zunehmend alarmiert über die Anschuldigungen gegen Anas al-Sharif und fordern die internationale Staatengemeinschaft auf, ihn zu schützen“, so CPJ Direktorin Sara Qudah.

Anas al-Sharifs eigene Lageanalyse sah ähnlich aus: „Die Vorwürfe, dass ich für die Hamas tätig sei, ist nicht nur eine Kampagne, um meinen Ruf zu zerstören. Es ist eine direkte Bedrohung für mein Leben.“

Al-Sharif bestritt stets, irgendeiner politischen Bewegung anzugehören. Viele feiern ihn auch nach seinem Tod, weil er lediglich darüber berichtete, was er sah: die Zerstörung des Gaza­streifens.

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