Kritik am Umgang mit Flüchtlingen: Selbst verursachtes Chaos
Führungskräfte des Heimbetreibers Fördern und Wohnen werfen dem Senat vor, Missstände bei der Flüchtlingsunterbringung wären vermeidbar gewesen.
Ohne ein schlüssiges Gesamtkonzept werde sich das Hilfspotenzial der Hauptamtlichen und ehrenamtlichen HelferInnen erschöpfen, warnen sie. Außerdem drohe eine jahrelange Ghettoisierung der Flüchtlinge, die sich wiederum negativ auf die Quartiere auswirke: „Werden Notstandorte mit einer großen Zahl verzweifelter Flüchtlinge das Stadtbild dominieren, dann droht der Stimmungsumschwung in unserer Stadt hin zu mehr Fremdenfeindlichkeit.“
Die chaotischen Zustände seien indes nicht überraschend, sondern von der Stadt selbst verschuldet, so die VerfasserInnen des Briefs. „Insbesondere die Kriegsflüchtlinge fielen nicht vom Himmel, sondern es war voraussehbar, dass durch ausländische Einmischung mitverschuldete Kriege zu einer humanitären Katastrophe führen mussten.“ Die Stadt habe viel zu spät reagiert und handele jetzt überstürzt und konzeptlos.
Zwischen den Jahren 2001 und 2010 seien radikal Kapazitäten abgebaut und Einsparungen vorgenommen worden. Auch die Verknüpfung mit dem Bau neuer öffentlich geförderter Wohnungen sei extrem vernachlässigt worden. Die Folge: „In unseren Unterkünften leben Tausende zum Teil schon seit Jahren, die längst Wohnungen hätten beziehen können.“
ist ein städtisches Unternehmen, das Wohnunterkünfte betreibt. Darunter sind feste Häuser, Container und Zelte für Flüchtlinge, Obdachlose, Jugendliche, Suchtkranke, SeniorInnen und Menschen mit Behinderung.
F&W wächst mit seinen Aufgaben, also mit der Zuwanderung: Hatte das Unternehmen 2007 noch 600 MitarbeiterInnen, sind es heute rund 1.200.
Acht bis zehn neue MitarbeiterInnen kommen jede Woche hinzu.
Dringend gesucht werden dort aktuell SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, Betriebs- und VerwaltungswirtInnen, Technische HilfsmitarbeiterInnen und IT-ManagerInnen sowie BereichsleiterInnen – unbefristet und in Vollzeit.
2.000 Überstunden fielen bei Fördern und Wohnen nach Informationen der Wochenzeitung Die Zeit allein im ersten Halbjahr 2015 an. Dazu kamen sechs Überlastungsanzeigen von MitarbeiterInnen.
Die Sprecherin von Fördern und Wohnen, Susanne Schwendtke, kann die Vorwürfe nicht ganz von der Hand weisen. „Inhaltlich ist das schon fundiert“, sagte sie der taz, „aber was sollen wir machen? Die Flüchtlinge stehen ja jetzt vor der Tür und wir tun, was wir können.“ Mit den MitarbeiterInnen, die die Vorwürfe erhoben haben, sei man im „konstruktiven Gespräch“.
Das Versagen der Behörden im Umgang mit den Flüchtlingen hatte sich in den letzten Tagen dramatisch zugespitzt. Ein Tiefpunkt war der Umzug der Flüchtlinge von den Messehallen in einen ehemaligen Baumarkt in Bergedorf am vorvergangenen Freitag. Erst am gleichen Tag hatten die Flüchtlinge vom Umzug erfahren. Bis nachts hatten Ehrenamtliche geholfen, den Transport zu organisieren. Als die Flüchtlinge in Bergedorf ankamen, fanden sie eine leere und schmutzige Halle ohne Betten vor.
Ihr Gepäck war in Plastiksäcken in einem LKW nach Bergedorf gebracht und dort als riesiger Haufen gleich aussehender Bündel abgeladen worden. Streit beim Zusammensuchen des eigenen Gepäcks unter 900 Menschen war programmiert. Erst nach drei Tagen wurden in der Halle Trennwände aufgestellt. Eine Gruppe von 75 Flüchtlingen zog es vor, bis dahin auf der Straße zu übernachten. Wenige Tage später kam es zu einer Massenschlägerei in der Unterkunft. Auslöser war ein Streit um die Benutzung der wenigen Duschen gewesen.
In dem offenen Brief fordern die VerfasserInnen den sofortigen Bau von 10.000 Sozialwohnungen für Flüchtlinge und Wohnungslose. Außerdem müsse die städtische Wohnungsgesellschaft Saga/GWG umgehend alle leer stehenden Wohnungen zur Verfügung stellen. Die MitarbeiterInnen warnen davor, benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Flüchtlinge und Obdachlose im Kampf um günstigen Wohnraum gegeneinander auszuspielen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken