Krisengeschüttelter FC Schalke 04: Zerlegte Kumpels
Schalke steckt in einer Identitätskrise. Neben Spielen und Geld verliert der Fussballverein jetzt auch rasend schnell an Ansehen.
Selbst Clemens’ Neffe Robert Tönnies, dem die Hälfte des zweitgrößten europäischen Fleischkonzerns gehört, gibt seinem Onkel die Hauptschuld für die Katastrophe, weil der sich weigere, die von ihm geforderten Verbesserungen der Arbeits- und Wohnverhältnisse der Mitarbeiter umzusetzen. Kinder stehen vor der Fabrik. „Können Sie noch ruhig schlafen Hr. Tönnies?“, steht auf einem Plakat. In der öffentlichen Wahrnehmung ist Clemens Tönnies derzeit so etwas wie der größte Bösewicht der Nation. Schon wieder.
Im vergangenen Sommer fabulierte der 64-Jährige über „die Afrikaner“ und deren Fortpflanzung, seither steht er unter dem Verdacht, ein Rassist zu sein. Nun laufen in allen Nachrichtensendungen Beiträge über die gruselige Realität der Billigfleischproduktion. Und Tönnies’ Wirken als Aufsichtsratschef beim FC Schalke 04 hat ebenfalls einen Tiefpunkt erreicht. Zwar hat Sportvorstand Jochen Schneider nach Gerüchten über eine drohende Insolvenz erklärt, die wirtschaftliche Situation des Klubs sei „nicht mehr existenzbedrohend“, aber das ist für viele Fans nur ein kleiner Trost inmitten der längsten Serie in der Bundesligageschichte ohne Sieg. Seit 14 Partien hat das Team nicht gewonnen. Voller Wehmut erinnern sie sich an die süßen Momente, die gar nicht so weit zurückliegen.
Die Stars sind weg
2015 war der Klub noch ein strahlender Champions-League-Teilnehmer voller Stars wie Leroy Sané, Thilo Kehrer, Joel Matip, Sead Kolasinac, Julian Draxler, Kevin-Prince Boateng, Leon Goretzka oder Jefferson Farfan. Am vergangenen Mittwoch spielte Schalke beim 1:2 in Frankfurt mit jungen Spielern, die kaum jemand kennt: Timo Becker, Can Bozdogan, Nassim Boujellab, Ahmed Kutucu und Malick Thiaw, ein Symptom eines sagenhaften Niedergangs, der sich auf sportlicher Ebene zeigt, der aber – wie die Billigfleischproduktion – auch eine moralische Dimension hat. „Arm ist man nicht ohne Geld, arm ist man ohne Herz“, sagen die Leute auf Schalke gerne. Dem mit fast 200 Millionen Euro verschuldeten Klub droht nun auch, seine wärmende Kraft verloren zu gehen.
Anfang des Monats forderte der FC Schalke Inhaber von Tickets für die Geisterspiele auf, einen „Härtefallantrag“ zu stellen, wenn sie die ihnen zustehende Rückzahlung erhalten wollten. Sie sollten „genaue Informationen“ über ihre „persönlichen Lebensumstände“ übermitteln und „entsprechende Belege“ einreichen. Die Empörung war enorm. Sportvorstand Schneider bezeichnet die Aktion, in deren Folge der langjährige Finanzchef Peter Peters den Klub verlassen musste, mittlerweile als „kapitalen Fehler“.
Die Entlassung von 24 Mitarbeitern des Fahrdienstes sei hingegen „aus unternehmerischen und betriebswirtschaftlichen Gründen richtig“, sagt er. Schalke 04 werde sozialverträgliche Lösungen für die Mini-Jobber finden, die zum Teil seit vielen Jahren auf 400- oder 450-Euro-Basis für den Verein arbeiteten. Aber auch dieser Schritt hat viele Schalker entsetzt. Zuvor war schon die Basketballabteilung geschlossen worden, das Zweitligateam wurde aufgelöst. Tönnies Rassismus-Eklat, die Zustände in seiner Fleischfabrik. All das sind Vorgänge, die Wunden schlagen im über Jahrzehnte entstandenen Schalker Selbstbild.
Stolz aufs Assi-Image
Als Fußball in den 1930er Jahren noch ein bürgerlicher Sport war, trat hier ein sensationell gutes Team auf und hat den Arbeitern im ganzen Ruhrgebiet zu einer ordentlichen Portion Selbstvertrauen verholfen, erzählt der Vorsitzende der Stiftung Schalker Markt, Olivier Kruschinski: „Da spielen die ganzen Schickimickis unter sich, und jetzt kommen da plötzlich so ein paar Assis. Die Polacken und Proleten vom Schalker Markt, die Szepans, Kuzorras und Tibulskis und erfinden den modernen Hochgeschwindigkeitsfußball.“
Sie besiegten ihre Gegner nicht mit den Tugenden der Bergarbeiter, nicht mit Zusammenhalt und Einsatzbereitschaft, sondern mit Intelligenz, Kreativität und Eleganz. Mit einem Stil, der als Vorläufer des spanischen Tiki-Taka gilt, gespielt von Leuten, die noch gemeinsam mit den Arbeitern in die Zechen eingefahren sind.
Seither läuft die Identifikation der Stadt über diesen Verein. Zwölf der 265 deutschen WM-Teilnehmer seit 1954 sind gebürtige Gelsenkirchener, keine andere Stadt kann da mithalten. Zugleich haben sie aber immer ihre Außenseiterrolle gepflegt. Früher als Proleten, heute als Repräsentanten der ärmsten Stadt Deutschlands. „Wir sind Schalker, asoziale Schalker, schlafen unter Brücken, oder in der Bahnhofsmission“, sang die Nordkurve, als noch Zuschauer kommen durften. Ursprünglich ist das ein Stadionklassiker zur Schmähung gegnerischer Fans, den die Schalker so oft zu hören bekamen, dass sie ihn selbstironisch umgedichtet haben.
Dieser Selbstwahrnehmung steht der dringende Wunsch gegenüber, mit Bayern München und Borussia Dortmund mitzuhalten. Es sei nicht verwunderlich, dass der FC Schalke 04 schon länger ein wachsendes Problem mit seiner Identität habe, sagt einer, der vertraut ist mit den Vorgängen im Klub. In der Kategorie Gehälter gehörten sie in diesem Jahrtausend fast immer zu den drei, vier Topteams der Liga, inszeniert haben sie sich aber als „Kumpel- und Malocherklub“, der stolz darauf ist, noch ein eingetragener Verein zu sein. Dieses Konstrukt kann nicht dauerhaft funktionieren, erst recht nicht, wenn eine konzeptionelle Linie fehlt.
Der Verein, der keine Kapitalgesellschaft sein will
Seit 2001 sitzt Tönnies dem Aufsichtsrat vor, er arbeitete mit den Managern Rudi Assauer, Andreas Müller, Felix Magath, Horst Heldt, Christian Heidel und nun Jochen Schneider zusammen. Jeder dieser Leute hatte irgendwelche Ideen, jeder heuerte und feuerte Trainer, Kontinuität und Ruhe kehrte nie ein, jetzt droht der Klub, abgehängt zu werden. In diesem Prozess des Niedergangs sind sie nicht zuletzt zum Opfer ihrer Rivalität mit dem BVB geworden. Die Dortmunder haben sich innerhalb weniger Jahre vom Pleiteklub zum Deutschen Meister und Champions-League-Finalisten entwickelt. Wenn die das schaffen, dann muss das für uns erst recht möglich sein, dachten viele Schalker. Auch Clemens Tönnies, der Milliardär, soll diese Haltung vertreten haben, berichten Insider.
In diesem Klima steckte der Sportvorstand Horst Heldt jeden Cent in den chronisch überteuerten Kader, während andere Topklubs moderne Trainingsparks mit perfekt ausgestatteten Nachwuchsleistungszentren bauten. „In der Vergangenheit wurden andere Prioritäten gesetzt und nicht in diese Dinge investiert“, hat der ehemalige Sportvorstand Christian Heidel vor drei Jahren gesagt. „Schalke hat bei den Arbeitsbedingungen einen sehr großen Rückstand.“ Heidel initiierte den 80 Millionen Euro teuren Umbau des Klubgeländes, das Projekt ist fast fertig. Der Rückstand zur Konkurrenz ist trotzdem eher größer geworden. Nicht zuletzt, weil Heidel sich bei Spielerkäufen verspekulierte.
Mittlerweile ist die Lage derart prekär, dass sie ein Tabuthema angehen: die Ausgliederung der Profiabteilung. Die Rechnung ist simpel: Laut KPMG ist der Fußballkonzern 800 Millionen Euro wert, nach einer Ausgliederung könnten 49,9 Prozent der Anteile an Investoren veräußert werden, ohne gegen die 50+1-Regel zu verstoßen. Die eingenommenen 400 Millionen könnten zur Hälfte verwendet werden, um die Schulden zu bezahlen, mit den übrigen 200 Millionen könnte ein kluger Sportvorstand ein Team mit Perspektive aufbauen. 75 Prozent der Mitglieder müssten zustimmen, was als ausgeschlossen gilt. Zu groß ist die Skepsis gegenüber den Auswüchsen des modernen Fußballs.
Das Schalker Scheitern ist damit auch eine Konsequenz der Haltung der Menschen an der Basis. Ein modernes Fußballunternehmen wollen sie nicht sein. Und die Oppositionsgruppe, die auf eine Absetzung von Clemens Tönnies hofft, ist zu schwach. Die Mitglieder wählen den umstrittenen Unternehmer immer wieder neu. Es nicht einfach, diesen Klub zu verstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland