Krise in Frankreich: Angst und Desinteresse
Die Beziehungen zu Frankreich sind eng wie zu kaum einem anderen Land – aber kaum jemand traut sich, die Krise im Nachbarland offen zu analysieren.
D er Müll ist nach den tagelangen Streiks mittlerweile von den Straßen weggeräumt, aber der politische Scherbenhaufen ist noch einmal größer geworden in Frankreich, seitdem der Präsident seine ungeliebte Rentenreform am Parlament vorbei durchgesetzt hat. Und es stellen sich Fragen aus deutscher Sicht: Sollen wir eigentlich mit verschränkten Armen zuschauen, wie unser Nachbarland den Rechtsradikalen in die Hände fällt? Wäre es nicht an der Zeit, Vorschläge zu machen, wie man unseren Nachbarn ein wenig bei der Brandbekämpfung hilft?
Es dürfte kaum europäische Länder geben, die so viele institutionelle Beziehungen etabliert haben wie Deutschland und Frankreich. Aber an Brückenbauern mangelt es. Wo sind eigentlich die Fachleute, die ernsthaft den Dialog mit den linksrheinischen Experten suchen über so demokratieuntaugliche Dinge wie das Präsidialsystem, das Mehrheitswahlrecht, das Zwei-Klassen-Bildungssystem, Geschichtsklitterung, die Zerschlagung von Parteien und ihr Ersetzen durch „mouvements“?
Wo sind die linken Politiker, die die Anhänger von LFI (La France insoumise) zu überzeugen suchen, dass Populismus vielleicht eine Sahra Wagenknecht oder einen Jean-Luc Mélenchon zum Star erheben kann, aber keine sozialen Probleme löst? Wo sind die deutschen Gewerkschafterinnen, die mal ein wenig zeigen, wie effizient Verhandlungen sein können?
Kann es sein, dass vor lauter Angst davor, sich als Lehrmeister aufspielen, lieber geschwiegen wird? Dass wir schön bequem die französische Mentalität bemühen, anstatt uns die Mühe zu machen, jene Kräfte zu verstehen und zu unterstützen, die nicht in dieses Schema passen? Wenn sich meinungsbildende Journalisten hierzulande billig über den „Größenwahnsinn“ eines Präsidenten aufregen, anstatt ernsthaft Strukturen zu analysieren, wenn ein Ulrich Wickert als der größte Frankreichversteher hierzulande gilt, dann darf man sich auch nicht wundern, wenn irgendwann einmal Rassemblement National Wahlen gewinnt und ein ganzes Land orbanisiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin