Kriminologe Feest über Sicherheitsverwahrung: "Abenteuerliche Konstruktionen"
In Hamburg jagt die Presse einen aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen, in Lübeck bleiben Entlassene freiwillig in Haft. Ein Gespräch mit dem Bremer Kriminologen Johannes Feest über Versäumnisse der Justiz.
taz: Warum nennen Sie die Ängste vor den aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen irrational, Herr Feest?
Johannes Feest: Die Gefahren gehen unter Umständen von ganz anderen Leuten aus, als von diesen nunmehr 15 Entlassenen. Inzwischen gibt es trotz aller methodischen Schwierigkeiten Forschung, die zeigt, dass keineswegs jeder, der aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen weiter schwere Straftaten begeht. Und zwar: nicht nur nicht jeder, sondern es ist die große Ausnahme.
Waren das Entlassene mit schlechter Prognose?
Das waren durchweg Gefangene mit schlechter Prognose - sonst wären sie ja auf normalem Wege entlassen worden. Aber so haben Gutachter ihnen ins Zeugnis geschrieben, dass weiterhin Straftaten zu erwarten seien.
Kriminologe, Rechtssoziologe und Leiter des Strafvollzugsarchivs der Uni Bremen. Redakteur des Kriminologischen Journals.
Ist der Erhebungszeitraum denn jetzt schon aussagekräftig?
Da gibt es zwei Antworten. Der Autor der Untersuchung, Michael Alex, sagt selbstkritisch, dass seien nur zweieinhalb Jahre Untersuchungszeitraum für jeden Entlassenen. Wir wissen aber auch, dass jede Untersuchung zeigt, dass Rückfälle meist innerhalb des ersten Jahres, oft sogar innerhalb der ersten sechs Monate passieren. Danach wird die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer.
Sie haben sich kritisch über die Aussagefähigkeit dieser Gutachten geäußert. Ist man nicht dennoch auf diese Krücke angewiesen?
Absolut. Man sollte nur nicht allzu blauäugig annehmen, dass man vollständig auf sie setzen kann. Die Gutachten gehen vielfach in Richtung Wahrsagerei, weil sie durchweg auf kurzen Gesprächen mit Leuten beruhen, die sich seit langem in Haft befinden. Es sind Leute, denen man Lockerungen verweigert hat - und deshalb eben nicht weiß, wie sie sich in freier Wildbahn verhalten.
Manche Menschen werden unbemerkt aus der Sicherungsverwahrung entlassen, bei anderen beginnt sofort eine mediale Hetzjagd. Ist das Zufall?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zufällig ist. Ich denke, dass die Anstalten und Staatsanwaltschaften zum Teil sehr konkrete Mitteilungen heraussickern lassen und es gibt andere, die es diskreter handhaben. Was mich wundert: In den ganzen Medien taucht das Wort Führungsaufsicht überhaupt nicht auf, obwohl das die Institution ist, die für jeden einzelnen dieser Entlassenen zuständig ist.
Taucht die Führungsaufsicht nicht auf, weil sie gut, aber geräuschlos arbeitet?
Das kann es heißen: dass der Vollzug ordentliche Entlassungsvorbereitung leistet und eine vernünftige Zusammenarbeit mit der Führungsaufsicht betreibt - was seit Dezember 2009 möglich war, als sich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs abzeichnete. Aber es gibt eben auch die Fälle, wo alles aus dem Ruder läuft und jede Menge Polizisten hinterherlaufen, die uns gerade via Medien beschäftigen.
Sie halten solche Fälle für vermeidbar?
Ich habe mich sehr geärgert über den Leiter der Freiburger Justizvollzugsanstalt, aus der der Mann entlassen wurde, der sich jetzt in Hamburg aufhält. Dieser Leiter stellte sich vor die lokale Presse und sagt: Ich hatte ja nur einen Tag Zeit, um ihn auf die Entlassung vorzubereiten. Das ist schlicht nicht wahr.
Vermutlich glaubte er, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs erst spät praktische Folgen haben würde.
Er hat sich sicher andere Vorstellungen gemacht. Aber die vollmundigen Ankündigungen bestimmter Politiker, dass sie verhindern würden, dass auch nur ein einziger Sicherungsverwahrter freikäme, sind eben Illusion. Und er als Anstaltsleiter hat eine andere Verantwortung, dann muss er Eventualpläne machen.
Der niedersächsische Justizminister will das Urteil mit Sonderanstalten für eigentlich zu Entlassende umgehen. Ist das rechtlich vorstellbar?
Wenn man genauer hinhört, ist das Zukunftsmusik und bezieht sich auf eine künftige Gesetzgebung, mit der einige hoffen, doch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung erhalten zu können.
Noch urteilen die Gerichte sehr unterschiedlich: einigen Einsprüchen der Staatsanwaltschaften gegen die Entlassung wurde Recht gegeben.
Es sind in meinen Augen zum Teil abenteuerliche Konstruktionen. Sie wollen nicht, dass es zu diesen Entlassungen kommt - wofür man in gewisser Weise Verständnis haben kann. Aber für die Rabulistik der Auslegung habe ich weniger Verständnis.
In Lübeck gingen zwei Entlassene freiwillig zurück ins Gefängnis, weil es keine geeignete Unterbringung für sie gab. Wie groß ist der Bedarf nach Einrichtungen für solche Menschen?
Es ist eine vergessene Gruppe. Inzwischen gibt es die eine oder andere Studie zur Sicherungsverwahrung - aber die beschäftigen sich mit der Rechtslage oder den Haftbedingungen. Mit den Personen beschäftigt sich keine. Ich halte mich an eine Mitteilung des niedersächsischen Justizministeriums: Man braucht maßgeschneiderte Lösungen für jeden einzelnen Fall. Manche können privat gut unterkommen, für andere muss man sich eine Heimunterbringung ausdenken.
Wie präsent sind die Opfer in der Debatte?
Von den früheren Opfern hört man kaum etwas. Angesichts der Schwere der Taten leben sie zum Teil nicht mehr. Wenn von Opfern die Rede ist, ist meist das allgemeine Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft gemeint, dazwischen sind die neuen Nachbarn. Neue Opfer gibt es nicht - das liegt in der Natur der Sicherungsverwahrung, die einsperrt für Taten, die noch nicht begangen worden sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?