Kriminelle Krypto-Handys: Müssen hunderte Fälle neu aufgerollt werden?
Das FBI verkaufte Krypto-Handys an Kriminelle, das Verfassungsgericht erlaubte die Nutzung der Daten. Doch eine Recherche weckt Zweifel an der Entscheidung.
Es geht um eine wirklich spektakuläre Polizei-Aktion. Die US-Polizeibehörde FBI brachte mit Hilfe von Gangstern 2019 ein Krypto-Handy namens Anom auf den Markt. Werbespruch: „Von Kriminellen für Kriminelle“. Weltweit wurden bis Juni 2021 rund 12.000 Anom-Krypto-Handys gezielt an Gangs verkauft.
Was die Käufer nicht wussten: In die Verschlüsselungs-Software war eine Backdoor eingebaut. Alle Nachrichten wurden daher unverschlüsselt auf einen Polizeiserver geleitet. Insgesamt wurden auf diese Weise rund 27 Millionen Nachrichten aus mehr als hundert Ländern registriert. Das FBI verteilte diese Nachrichten, in denen offen über Drogen- oder Geldwäsche-Deals gechattet wurde, an die jeweiligen nationalen Polizeibehörden.
Auch die deutsche Polizei profitierte von der Anom-Operation. Es gab rund 860 Ermittlungsverfahren mit bereits über 300 Verurteilungen, überwiegend wegen Drogenhandels.
Wurde rechtsstaatliche Standards eingehalten?
Dabei war bisher aber unbekannt, in welchem Staat der Polizeiserver stand, bei dem die kriminellen Krypto-Nachrichten aus aller Welt eingingen. Bekannt war nur, dass es sich um einen EU-Staat handelte.
Ein Drogenhändler, der vom Landgericht Mannheim Anfang 2024 zu einer Freiheitstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt worden war, machte geltend, dass die Operation Anom überhaupt nicht richtig kontrolliert werden konnte. Wenn man nicht wisse, welche Polizei auf welcher Rechtsgrundlage den Server betrieb, sei auch unklar, ob rechtsstaatliche Standards eingehalten wurden.
Die deutschen Strafgerichte bis hin zum Bundesgerichtshof teilten diese Bedenken jedoch nicht. Da der Polizeiserver in einem EU-Staat stehe, könne nach dem „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ so lange von der „Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“ ausgegangen werden, wie dies nicht durch entgegenstehende Erkenntnisse erschüttert werde.
Auch eine dreiköpfige Kammer des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) schloss sich am 23. September dieser Sichtweise an. Es erschließe sich nicht, warum es auf die Kenntnis des Staates und die dortigen gerichtlichen Beschlüsse ankommen soll, hieß es.
Müssen hunderte Fälle neu aufgerollt werden?
Noch bevor dieser BVerfG-Beschluss veröffentlicht wurde, erschien am Montag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Recherche, die wichtige Fragen beantwortete. Danach ist Litauen der EU-Staat, in dem der Polizeiserver stand. Die FAZ hat auch den Beschluss der litauischen Richterin vorliegen, die die Weiterleitung der Informationen von diesem Server an das FBI erlaubte.
Aus der FAZ-Recherche ergibt sich, dass das FBI nach Litauen auswich, weil es nicht gelungen war, den Beschluss eines US-Gerichts für die Anom-Operation zu erhalten. Die litauische Richterin wurde auch nicht korrekt über die Operation informiert. So habe sie nicht gewusst, dass die Krypto-Handys vom FBI verkauft wurden und dass der Server zum Sammeln der Nachrichten vom FBI installiert wurde. Auf Anraten der litauischen Polizei ließ das FBI in seinem Rechtshilfe-Ersuchen wesentliche Informationen einfach weg. Möglicherweise hätte die Richterin sonst den Beschluss gar nicht unterschrieben, weil es immer problematisch ist, wenn die Polizei die Begehung von Straftaten unterstützt, die sie anschließend aufklären will.
Der Frankfurter Strafrechtsprofessor Matthias Jahn sagte der FAZ, dass angesichts dieser Recherchen die Argumentation der deutschen Strafgerichte „wie ein Kartenhaus“ in sich zusammenfalle. Möglicherweise müssten die Verfahren aller 300 Verurteilten, die auf den Anom-Chatdaten beruhten, wiederaufgenommen werden, so Jahn.
Trotz dieser Recherchen veröffentlichten die Verfassungsrichter an diesem Mittwoch ihren Beschluss vom 23. September. Vermutlich war die Entscheidung am Montag, als die FAZ-Recherche erschien, bereits an die Verfahrensbeteiligten verschickt worden – und dann war für die Richter nichts mehr zu machen. Die FAZ kam also wohl ein bis zwei Tage zu spät.
Sicher werden nun aber Anwält:innen Wiederaufnahmeverfahren beantragen. Und wenn das nicht erfolgreich ist, wird wieder das Bundesverfassungsgericht eingeschaltet.
Wohl keine direkten Auswirkungen haben die FAZ-Recherchen allerdings auf eine ähnliche Operation der französischen Polizei, die auch zu vielen Ermittlungsverfahren in Deutschland führte. Dabei hat die französische Polizei die so genannten Encrochat-Kryptohandys nicht selbst auf den Markt gebracht, sondern gehackt. Auch hier wurde bisher von deutschen Gerichten die Nutzung der Chatdaten zur Strafverfolgung erlaubt.
Transparenzhinweis: In einer früheren Version dieses Textes war fälschlicherweise von „Anon-Handys“ die Rede. Der Name der Geräte lautet allerdings „Anom“. Wir haben den Fehler korrigiert.
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