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Kriminalität wegbeißen

Hubert Numrich lehrt in seinem Kampfsportstudio „Sharks Gym“ gefährdete Jugendliche den sozial verträglichen Knockout. Das Projekt steht aber auf der Kippe. Hilfe von der Stadt bleibt aus

aus Darmstadt THOMAS HERGET

Die Architekten, die diesen Stadtteil in den Sechzigerjahren entwarfen, müssen sich davor mit Gefängnisbauten beschäftigt haben. Anders lassen sich die monströsen Wohnstümpfe nicht erklären, die aus der Satellitenstadt Neu-Kranichstein ein betonstarrendes Ghetto machen. So oft es geht, entfliehen Andreas und Michael dem Grau an der Peripherie Darmstadts und gehen trainieren, weil selbst die kalte Neonbeleuchtung im „Sharks Gym“, das sich hinter den Wohnwaben duckt, mehr Gemütlichkeit verbreitet als alle Wohnzimmer dieser Retortenstadt zusammen.

Wenn im Kampfsportstudio über einer Tankstelle die Lichter angehen, dann bleibt allabendlich für drei Dutzend junge Sportler die Gewalt auf der Straße zurück – zumindest für ein paar Stunden. In den Kampfpausen, in denen sie nicht mit wattierten Handschuhen auf Lederpratzen und Sandsäcke eindreschen, werfen die beiden Fünfzehnjährigen einen verschämten Blick in die dunklen Straßenschluchten, wo gerade ein paar Jugendliche in bunten Fila-Jacken ihre Köpfe zusammenstecken, sich vielleicht eine Zigarette anstecken oder in Pornos blättern. Oder mit geklauten Handys dealen, die ihnen ihre großen Brüder überlassen, wenn ihnen das Geschäft zu heiß geworden ist. Darmstadts vergessene Kinder – hier kann man sie finden.

Andreas und Michael kamen vor sechs Jahren als so genannte Russlanddeutsche mit ihren Familien ins Rhein-Main-Gebiet. Früh begannen die Hänseleien wegen der Sprachschwierigkeiten. Andreas hatte noch Glück im Unglück. Obwohl er von Mitschülern „ein halbes Jahr lang zusammengeschlagen“ wurde, fielen die schulischen Leistungen nicht ab. Der introvertierte Jugendliche stählt sich seit zwei Jahren sein Selbstvertrauen beim Boxen: „Es ist gut zu wissen, dass man zurückschlagen kann.“ Für seinen Kumpel Michael gehört der Faustkampf „mindestens einmal im Monat“ zum Lehrplan außerhalb des Gyms. „Die Lehrer stehen dabei und schauen zu, weil sie selbst Angst haben“, hat er beobachtet. An der Diesterwegschule – in Darmstadt nicht gerade als ein Hort fortschrittlicher Pädagogik verschrieen – gehörten Prügeleien mittlerweile zum Schulstoff wie die Milchschnitte zur Pause. Als sein Notendurchschnitt in den Keller rutscht, beschließt Michael freiwillig, das Schuljahr nachzumachen, ohne Erfolg. Sein Ersuchen, auf eine andere Schule wechseln zu dürfen, scheitert am Veto des dortigen Rektors. Die Klassen seien überbelegt. Einer von Michael Kumpels darf dennoch problemlos wechseln. Er ist Deutscher.

Aber es sind keineswegs nur die Kinder von Spätaussiedlern und Ausländern, die Opfer von Gewalt und Benachteiligung werden. „Ich würde zuschlagen, wenn man meine Mutter beleidigen würde“, sagt Michael trotzig. Dann schaut er verstohlen zu Boden. Wohl auch aus Scham, weil ihm bei derartigen Provokationen mangels Körperkraft früher die Hände gebunden waren.

„Die haben einen enormen Familienstolz“, fasst Hubert Numrich, Leiter des „Sharks Gym“, seine Erfahrungen mit den aus Kasachstan und anderen GUS- Staaten kommenden Aussiedlern zusammen. Jährlich rund 80 Deutschstämmige versuchen in Kranichstein und Eberstadt-Süd, einem weiteren sozialen Brennpunkt Darmstadts, heimisch zu werden, doch viele fühlen sich fremd, weil sie die kulturellen Wurzeln hier verleugnen müssten. Perfekt ist die Integration nur auf dem Papier. Angesehene Ärzte, Rechtsanwälte und Ingenieure sind viele gewesen, weiß Numrich. Hier dürften sie für acht Mark die Stunde den Maurern am Bau die Klohäuschen schrubben. Da sollen es die Kinder besser haben, auch wenn die zuerst auf der sozialen Leiter durchgereicht werden wie Michael, für den das Sportstudio mittlerweile zu einem sozialen Haltepunkt geworden ist, wo paradoxerweise die Drogen- und Jugendkriminalität mit Hieben, Tritten und Schlägen ausgeknockt werden soll.

Pistole an der Schläfe

Häufig genug rekrutieren sich die Problemkinder auch aus der sozialen Oberschicht. Mike etwa war kurz davor, als Verbrecher früh Karriere zu machen. Aufgewachsen in einem gut situierten Elternhaus, ging er aufs Gymnasium und spielte Tennis, „bis mich alles gelangweilt hat“. Action und Spaß versprach der Handel mit geklauten Zigarettenstangen. Da ist Mike vierzehn. Wenig später wird er mit anderen beim Knacken einer Corvette erwischt. Weil er der jüngste der Autoknacker ist, treiben die Polizisten mit ihm die wildesten Spiele. Um die Namen von möglichen Mitwissern aus ihm rauszupressen, halten sie eine Pistole an dessen Schläfe, während sie ihm den Stuhl unter dem Hintern wegtreten. Zwar kommt er mit dreihundert Stunden Jugendstrafe davon, „aber ich habe gemerkt, dass ich Gefallen am Verbrechen gefunden hatte“, bilanziert der heute 27-Jährige.

Sieben Nasenbrüche, Autodiebstähle, Bankbetrug, Koks – die einzige Konstante in Mikes Leben ist die, dass es keine gibt. Ordnung bringt ausgerechnet dieser Kerl hinein, mit dem er in einem Imbiss über Kampfsport fachsimpelt. Hubert Numrich ist Deutschlands erfolgreichster Vollkontaktkämpfer, sammelt Titel im Kickboxen und Freefight, einer in Deutschland verbotenen Variante moderner Gladiatorenkämpfe, für die es nur eine Spielregel gibt: erlaubt ist, was Erfolg verspricht. Parallel betreibt der Zwei-Meter-Mann sein erstes soziales Projekt, eine Kampfsport-Drogentherapie in der Nieder-Beerbacher „Waldmühle“. Was Mike dort erlebt, imponiert ihn: „Früher war ich sicher, die Szene müsste etwas Asoziales haben, jetzt faszinierte mich die Ästhetik und die Intelligenz beim Kampf.“ Mike startet nicht bloß als Kickboxer durch, er besteht auch seine Pilotenausbildung bei der Lufthansa.

„Kampfsport schult den Charakter“, sagt Numrich. Der Kampf sei die ehrlichste Form der Auseinandersetzung. Ein Weg, die eigenen Möglichkeiten zu erkunden und die Grenzen zu finden. Spielregeln vorausgesetzt. Wer die bricht, so der staatlich geprüfte Betriebswirt, „der kann gehen“. So hat er ehemalige Junkies zu Meistertiteln geführt und Knackis vor Rückfällen bewahrt. Unlängst ist sein Nachwuchsverein wieder zum erfolgreichsten in Hessen gekürt worden.

Lilio, 21, Hessen-Vizemeisterin im Boxen, lobt zudem die ungezwungene Atmosphäre: „Ich fühle mich als Frau hundertprozentig gleichberechtigt.“ 13 Nationalitäten gehören der multinationalen Kampftruppe an, die Hälfte der Mitglieder sind Russlanddeutsche. Gerade sie definierten ihre gesellschaftliche Stellung oft über den Sport, sagt Numrich. Denn wer es in der Hierarchie einer Straßengang zu Ansehen gebracht habe, „der spielt in seiner Freizeit kein Federball“. Unter seinen Augen wüchse im Training dagegen der gegenseitige Respekt der verfeindeten Jugendbanden mit der sportlichen Auseinandersetzung.

Gerne würde der sanfte Riese seinen weniger betuchten Mitgliedern die Studiobeiträge ersparen. Doch die Beamtenstadt Darmstadt, die in der Statistik der Jugendkriminalität einen Spitzenplatz hält, zeigt sich wenig kooperativ. Zwar darf Numrich mit seinem Insiderwissen in Stadtteilkonferenzen dozieren, als er sich jüngst aber anbot, kostenlos Kurse für den Schulsport zu leiten, ließ man ihn abblitzen. „Die haben ein Problem mit mir“, glaubt er, „weil ich Jugendliche erreiche.“ Dabei könnte ein Blick nach Frankreich, wo ein ähnliches Resozialisierungsprogramm für Jugendliche bei Marseille die Kriminalität um 60 Prozent senkte, die Stadtväter umstimmen, „doch für Prävention ist nie Geld da“.

Noch fünf Jahre

Das könnte sich ändern, wenn das organisierte Verbrechen in die Stadt des Jugendstils einzieht: Schon heute hielten mafiose Russlanddeutsche einige Städte in Ostdeutschland im Würgegriff, vernetzt durch eine funktionierende Bandenstruktur, die selbst gegen Polizeirazzien immun zu sein scheint. „Ich gebe Darmstadt noch fünf Jahre, dann können die hier den Laden zumachen.“ So lange will Numrich, der sich von Sponsoren und Tagespresse schon deswegen geschnitten sieht, weil ihm die rhetorischen Tricks und Kniffe des Sportmarketings weit gehend abgehen, nicht warten. Zusammen mit einem Freund erwartet ihn die Leitung eines Projektes in Berlin. Eine schwer auszuschlagende Option, schon aufgrund der Tatsache, dass „Sharks Gym“ auf Dauer wirtschaftlich kaum zu halten ist. Schließt das Studio, würden Andreas und Michael womöglich wieder auf der Straße stehen. Denn eines ist sicher: Raus aus der Stadt wollen sie, gerade heimisch geworden, nicht. „Es ist doch so ruhig hier“, sagt Michael, während Andreas seinen Frieden mit Darmstadt über den Dächern der Stadt gemacht hat. Kulturbeflissen zieht es den Russlanddeutschen hinauf auf die Mathildenhöhe zur Russischen Kapelle.

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