Kriegsgefangene in Russland: Hoffen auf ein Lebenszeichen
Ukrainische Familien von inhaftierten Soldaten demonstrieren regelmäßig für deren Rückkehr. Aber Gefangenenaustausche werden seltener.
![Mit ukrainischen Fahnen umhüllte Menschen umarmen sich Mit ukrainischen Fahnen umhüllte Menschen umarmen sich](https://taz.de/picture/6756971/14/34353101-1.jpeg)
Es sind herzergreifende Worte: „600 Tage Gefangenschaft“, „Erweist den Gefallenen Respekt, helft den Lebenden, erhebt eure Stimmen für die Gefangenen!“, „Erinnern, sprechen, zurückholen!“ und: „Freiheit für die Garnison von Mariupol!“, „Vergessen ist schlimmer als Verrat“, „Kämpfen wir für sie so, wie sie für uns gekämpft haben“, „Mein Sohn ist mein Leben!“.
Drei Verteidiger des metallurgischen Kombinats Asowstahl in Mariupol, die aus Kowel stammen, befinden sich immer noch in russischer Gefangenschaft: Wladislaw Bakum, Andrej Bogdan und Wladislaw Oksentaschuk. Ihre Familien hören nicht auf, für sie zu kämpfen. Sie werden nicht müde daran zu erinnern, dass die Gefangenschaft gleichbedeutend ist mit ständiger Folter, Isolation und Unsicherheit.
Die Kundgebung in Kowel ist nur ein Beispiel für Hunderte ähnliche Aktionen in der Ukraine zur Unterstützung Tausender inhaftierter Verteidiger der Stadt Mariupol, die seit dem Frühsommer 2022 unter russischer Besatzung steht. „Schweigt nicht, Gefangenschaft tötet!“, lautet das Motto der Vereinigung der Familien der Verteidiger von Asowstal – dem letzten Zufluchtsort der Kämpfer, die Mariupol 2022 bis zum Schluss verteidigt hatten.
Größter Gefangenenaustausch seit Kriegsbeginn
Bislang hat die Ukraine 230 Personen, darunter Soldaten und Zivilisten, aus russischer Gefangenschaft zurückgeholt. Am 3. Januar 2024 war es unter Vermittlung der Vereinigten Arabischen Emirate nach monatelanger Pause erneut zu einem Gefangenenaustausch gekommen, es war die größte derartige Aktion seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 und der erste Austausch seit Monaten. Auch die Verteidiger von Mariupol kehrten nach Hause zurück. Doch die Familien von Angehörigen der Spezialeinheitsbrigade konnten ihre Verwandten nicht auf den Austauschlisten entdecken.
Russland hält diese Einheit der Nationalgarde immer noch gefangen. Ihre Angehörigen bitten die Staats- und Regierungschefs westlicher Staaten, die ukrainischen Behörden und ihre eigenen Landsleute, das Schicksal dieser Gefangenen nicht zu vergessen.
Im Winter wird es früh dunkel, aber trotz des beißenden Windes und Frosts bleiben die Teilnehmer*innen der Kundgebung in Kowel noch lange Zeit auf der Straße stehen. Sie unterhalten sich miteinander. Einfach die Gelegenheit zu haben, sich zu Wort zu melden und die Geschichte anderer Mütter oder Frauen zu hören, die ebenfalls darauf warten, dass ihre Männer und Kinder nach Hause kommen: das ist es, was ihnen in dieser Situation oft hilft.
An diesem Tag stehen sie im Rampenlicht. Vertreter und Vertreterinnen lokaler Behörden sind genauso auf den Platz gekommen wie Personen in Militäruniformen. Eine der Frauen, die bei der Kundgebung eine Rede hält, ist von Fernsehteams umgeben. „Wir versuchen, die Gesellschaft an den Kampf um die Gefangenen zu erinnern. Sie befinden sich dort in einer katastrophalen Lage – sie sind hungrig, frieren, werden gefoltert und sie sind von jeglicher Information völlig isoliert. Deshalb ermutigen wir alle dazu, sich diesem Kampf anzuschließen. Wir wissen, dass das funktioniert“, versucht die Frau die Journalisten zu überzeugen.
Neben ihr steht Swetlana Bogdan. Ihr 24-jähriger Sohn Andrej ist schon 20 Monate lang in Gefangenschaft, ihr anderer Sohn kämpft an der Front. Der Vater der beiden Söhne ist im Krieg zu Tode gekommen. Swetlana ist mit Tatjana Bakum auf der Kundgebung. Deren Sohn Wladislaw ist ebenfalls in Gefangenschaft. Ihre Kinder haben zusammen studiert und Sport gemacht. 2019 traten sie ihren Dienst bei „Asow“ an. Sie waren zusammen in Mariupol und wurden gefangen genommen, nachdem sie Asowstal verlassen hatten.
Russische Spielchen
Am 16. Mai 2022 wurden die beiden jungen Männer in eine Kolonie im Dorf Oleniwka im Gebiet Donezk evakuiert – wo später mehr als 50 ukrainische Gefangene durch eine Explosion starben. Die Russen verurteilten Andrei Bogdan zu 25 Jahren Haft in einer Hochsicherheitskolonie. Seitdem gibt es keine Neuigkeiten von ihm.
Am Ende der Aktion singen alle Anwesenden die ukrainische Hymne. Eine junge Frau hält ein Schild mit der Aufschrift „Mein Herz ist gefangen“ hoch, sie kann ihre Tränen nicht zurückhalten. Ihr Freund befindet sich ebenfalls in Gefangenschaft, das letzte Telefonat fand am 6. Mai 2022 statt. „Er hat mir alles Gute zum Geburtstag gewünscht. Wir haben gesagt, dass wir uns lieben.“
Die junge Frau schluchzt, eine ältere Dame beruhigt sie und sagt. „Ich bin hierhergekommen, damit die Mütter dieser Kinder die Unterstützung der Gesellschaft spüren. Ihre Söhne haben sich für die ganze Ukraine eingesetzt, damit unsere Kinder friedlich schlafen konnten. Aus irgendeinem Grund beginnen die Menschen dies zu vergessen und ein ruhiges Leben zu führen.“
Angaben der ukrainischen Regierung zufolge befinden sich mehr als 3.500 Militärangehörige in russischer Gefangenschaft. Da es sich nur um diejenigen handelt, die identifiziert wurden, könnte die tatsächliche Zahl höher sein. Als Ergebnis mehrerer Austauschaktionen wurden 2.430 Menschen nach Hause zurückgebracht, darunter 139 Zivilisten.
Ende November 2023 beschwerten sich ukrainische Behörden darüber, dass Russland den Gefangenenaustausch ausgesetzt habe. Möglicherweise möchte der Kreml auf diese Weise die Ukrainer beeinflussen und den Eindruck erwecken, dass die ukrainischen Behörden sich nicht mit dieser Frage beschäftigen.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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