Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine: Versteckt im eigenen Land
In der Ukraine können Männer jederzeit zum Militär eingezogen werden. Michail Nasarenko – jung, queer, gut ausgebildet – will nicht an die Front.
N ach vier Tagen verlässt Michail Nasarenko zum ersten Mal wieder seine Wohnung. Eilig läuft der junge Mann an diesem sommerlichen Mittag die Seitenstraße einer westukrainischen Großstadt entlang. Zwei Minuten braucht er bis zum Treffpunkt: ein studentisches Café auf dem Unicampus. Michail Nasarenko ist angespannt. In Zeiten wie diesen könnte ein solcher Ausflug sein ganzes Leben umwerfen.
Im Café wählt er einen Tisch in der hintersten Ecke. Der bietet ihm einen guten Überblick über den Raum. Kreative, Queers und Studierende sitzen hier. Sie tragen bunte Kleidung. Es wird geplaudert, an manchen Tischen gelacht. An anderen wirken die Gäste ernst und nachdenklich. Der Krieg ist auch an diesem Ort allgegenwärtig.
Michail Nasarenko hat das Uni-Café nicht ohne Grund ausgewählt. Er ist selbst jung, queer und gut ausgebildet. Er fällt hier nicht weiter auf. Wenn er sich überhaupt in der Öffentlichkeit bewegt, ist Unauffälligkeit für ihn inzwischen ein wichtiges Kriterium.
Seit Russland die Ukraine überfallen hat, werden im Land kampftaugliche Männer von der Straße weg rekrutiert. Auch er könnte jederzeit eine Einberufung zugesteckt bekommen. Er will nicht in den Krieg. Er kämpft an einer anderen Front, der zivilgesellschaftlichen.
Michail Nasarenko heißt in Wirklichkeit anders. Wer nicht kämpfen will, gilt in der Ukraine dieser Tage als Persona non grata. Kriegsdienstverweigerung ist eine Straftat. Zu Nasarenkos Schutz wurden deshalb auch sein Aufenthaltsort und die Organisationen, in denen er sich engagiert, anonymisiert.
Mit seiner Weigerung, in den Krieg zu ziehen, ist Michail Nasarenko nicht allein. Zwar sind die ukrainischen Männer, die nicht kämpfen wollen, in der Unterzahl, doch sie gewinnen zunehmend an Präsenz. Nicht zuletzt wegen einer Online-Petition, in der sich ein Rechtsanwalt gegen die aktuelle Praxis der Mobilisierung aussprach: Innerhalb weniger Tage wurde sie 27.000 Mal unterzeichnet. Kritik an der Art der Mobilisierung kommt inzwischen auch aus der Armee und sogar vom Verteidigungsminister selbst.
Was sind die Gründe der Männer, die nicht kämpfen wollen? Und was bedeutet diese Entscheidung für ihr derzeitiges Leben in der Ukraine? Die taz ist in mehrere Regionen des Landes gereist und hat mit Kriegsdienstverweigerern aus verschiedenen Milieus gesprochen. Aus Angst vor Konsequenzen wollten die meisten nur Hintergrundinformationen beisteuern. Lediglich Michail Nasarenko stimmte einem anonymisierten Bericht über seine Lage zu.
Vor dem russischen Angriff wurden in der Ukraine Männer zwischen 18 und 27 Jahren für 9 bis 18 Monate zum Militärdienst eingezogen – es sei denn, sie wiesen einen religiösen, familiären oder gesundheitlichen Ausmusterungsgrund vor oder leisteten einen sozialen Ersatzdienst. Nun verpflichtet das neue Mobilisierungsgesetz sämtliche Männer zwischen 18 und 60 Jahren dazu, sich in den Rekrutierungsbüros zu melden, den sogenannten Wojenkomats.
Aushänge in Bahnhöfen, Hostels und Hotelfoyers erinnern daran. Und nicht nur sie: In belebten Großstadtvierteln werben bekannte Militäreinheiten um freiwillige Meldungen, zum Beispiel der früher für seine rechtsradikalen Mitglieder berüchtigte „Rechte Sektor“, mittlerweile eine reguläre Armee-Einheit. „Verteidige die Nation gegen die Moskauer Okkupanten. Komm in die Reihen der Freiwilligen!“, steht auf den Plakaten des Sektors, dazu drei Handynummern.
Nach der Registrierung durchlaufen die Männer einen Gesundheitscheck. Wenn sie als tauglich eingestuft werden, können sie von diesem Moment an jederzeit eingezogen werden. Meist erst zu Trainings, dann direkt zum Einsatz im Krieg.
Da sich nicht alle Männer freiwillig melden, verteilen auch Vertreter von Polizei und Armee an jedem beliebigen Ort Briefe, auch Powistka genannt. Sie enthalten entweder die Aufforderung zur Registrierung, zur medizinischen Untersuchung oder direkt zum Militäreinsatz an der Front – je nachdem, welche Schritte der Betreffende vorher schon absolviert hat. Wer dann nicht innerhalb der gesetzten Frist von wenigen Tagen im Wojenkomat erscheint, muss eine Strafe von 1.500 bis 3.400 Hrywnja zahlen, umgerechnet rund 50 bis 110 Euro. Wer den Militärdienst aktiv verweigert, dem drohen laut dem ukrainischen Kriegsrecht drei bis fünf Jahre Gefängnis.
Deshalb versuchen Männer wie Michail Nasarenko, jedes Zusammentreffen mit Behördenvertretern zu vermeiden. Die meisten von ihnen bleiben im Land, denn Wehrfähige dürfen die Ukraine aktuell nicht verlassen. Ausnahmen gelten nur für bestimmte Gruppen, etwa für Männer mit besonders schweren Erkrankungen oder Behinderungen. Auch Ukrainer, die sich nachweislich um mindestens drei Kinder oder andere Bedürftige kümmern, können ausreisen. Abgeordnete des Parlaments dürfen die Ukraine ebenso verlassen wie Doktoranden und Wissenschaftler, die an ausländischen Universitäten tätig sind. Alle anderen nicht.
Wie viele wehrfähige Ukrainer versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, ist schwer zu schätzen. Man kann nur Hinweise sammeln. Einem Teil der Bevölkerung sind etwa die Ausreiseregelungen zu streng. In einer Umfrage des Human Security Lab der Universität von Massachusetts-Amherst sprachen sich 28 Prozent der befragten Ukrainerinnen und Ukrainer für eine Ausreise-Option wehrfähiger Männer aus.
Eine illegale Ausreise käme für Michail Nasarenko nicht infrage. „Dann bleibe ich lieber hier“, sagt er. Andere interessieren sich schon dafür: Bei Telegram gibt es mehrere öffentliche Kanäle mit bis zu 60.000 Followern, die versprechen, bei der Flucht zu helfen. Sie bestehen meist aus wenigen Einträgen, die zu kleineren, privaten Gruppen verlinken. Im Telegram-Kanal „Belyj Bilet“ („Weißes Ticket“ − wie das Ausmusterungsdokument umgangssprachlich genannt wird), werden Ausreisedokumente für 50.000 Hrywnja (1.300 Euro) und mehr angeboten. Es kursieren bei Telegram zudem etliche Geschichten, wie man die Kontrolleure dazu bewegt, über die Grenze gelassen zu werden. Ein Mann hat demnach mit Suizid gedroht, um passieren zu dürfen.
Die ukrainischen Tageszeitungen berichten auch von Schleusernetzwerken, in Maisfeldern an der Grenze zu Moldau würden immer wieder Männer festgenommen, heißt es. Nach Angaben der Polizei zahlen Ukrainer umgerechnet 1.600 bis 7.000 Euro pro Person für so eine illegale Flucht.
Chaos und Schikane
Die Bewegungsfreiheit ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter wurde zu Beginn des Krieges teils auch innerhalb des Landes eingeschränkt. Die ersten Kriegswochen, so erzählen wehrfähige Männer und ihre Angehörigen, seien von Unklarheit, Missverständnissen und Chaos geprägt gewesen. So sei manchen Männern der Zugang zu Evakuierungszügen verwehrt worden, auch wenn sich die nur innerhalb der Landesgrenzen bewegten. Sogar bei der Flucht aus den von Russen besetzten Gebieten sollen Männer von privaten Pkw-Fahrern abgewiesen worden sein.
Solche Erfahrungen schwächen das Vertrauen in den Staat. Zum größten Kritikpunkt wurde in den vergangenen Monaten aber die intransparente Mobilisierungspraxis. Vor allem im Westen der Ukraine, aber auch in östlicheren Regionen berichten Männer gegenüber der taz von ähnlichen Erfahrungen: Die Vorladungen zur Musterung beziehungsweise zur Einberufung werden scheinbar planlos und spontan an Passanten verteilt. Zwei bis drei Polizisten stehen dann in Zivil vor Ämtern, Supermärkten, Kirchen, Post- oder Bankgebäuden, vor Schwimmbädern und Kneipen − und drücken jedem, der annähernd zur gesuchten Personengruppe passt, eine Vorladung in die Hand.
In einem konkreten Fall sei ein Mann um die 50 mit starker Sehschwäche unfreiwillig eingezogen worden, erzählen enge Freunde von ihm. Nach wenigen Wochen kam er von der Front zurück, da er sich vor Ort nicht bewährt habe.
Anfang Juli tauchte die Polizei mit den sogenannten Powistkas auch auf einem Hippie-Festival in Transkarpatien auf. In Kiew wurden Vorladungen in einem Nachtklub verteilt, der trotz Sperrstunde öffnete. Dass die Behördenvertreter ausgerechnet dort tätig wurden, könnte einen Grund haben: Vorladungen werden auch schon mal anstelle von Strafzetteln oder Ordnungsgeldern verteilt, beispielsweise an Personen, die zu schnell Auto fahren – oder eben die nächtliche Sperrstunde nicht einhalten.
Dabei melden sich schon seit Kriegsbeginn viele Männer freiwillig bei den Rekrutierungsbüros, darunter viele mit Kampferfahrung aus dem Pflichtdienst oder dem Krieg im Donbass. Oft werden diese Freiwilligen wieder heimgeschickt: Man habe ihnen gesagt, dass man ihre Spezialisierung gerade nicht brauchen könne, berichteten einige von ihnen der taz.
Michail Nasarenko versteckt sich auch vor dieser Willkür. Er bleibt fast immer in der kleinen Wohnung, die er sich mit einer Freundin und Kollegin teilt. Aus Sicherheitsgründen haben sie die Wohnung unter ihrem Namen angemietet, erzählt er beim Treffen im Café auf dem Uni-Campus.
Als Programmierer kann er im Homeoffice arbeiten, egal wo. Am Tag nach der russischen Invasion ist er aus Angst vor den russischen Angriffen und einer möglichen Okkupation vom Landesinneren in den Westen gezogen. Er hat Heimweh. Die neue Stadt erscheine ihm sehr konservativ, sagt er. Auch die Ungewissheit, wie lange er hier noch ausharren muss, macht ihm zu schaffen.
Er ist überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg unbedingt gewinnen muss, um weiter bestehen und ihren Weg zu einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Gesellschaft gehen zu können. Eigentlich war er immer gegen Waffengewalt. Seit der russischen Invasion ist er dafür.
Progressiven Liberalen wie ihm sei bewusst geworden, dass das europäische Konzept mit seinen Werten am Ende sei, sagt er. „Dieser Krieg hat alles zerbrochen, was mir immer wichtig war: grüne Energie, Freiheiten und Menschenrechte, keine Waffen – kein Krieg.“
Michail Nasarenko, Ende zwanzig, schwul, setzt sich seit vielen Jahren aktiv für die Zukunft seines Landes ein. Auf seine Weise: In NGOs, Kleinparteien, auf Protesten und Demonstrationen kämpfte er für Menschenrechte, die Gleichstellung von LGBTQ, für eine nachhaltige Wirtschaft. Über viele seiner Aktivitäten wurde in den Medien berichtet. Seine Posts und Videos wurden vielfach geteilt.
Jetzt gilt er vor dem Gesetz als Verbrecher. In seiner Exilwohnung hat Michail Nasarenko die Vorhänge zugezogen und verhält sich möglichst still, erzählt er. „Ich mache auch nachts kein Licht an, damit niemand bemerkt, dass ich da bin.“ Nur selten geht er in den Supermarkt. „Essen kann ich online bestellen und liefern lassen.“
Seine Mitbewohnerin, die zu dem Treffen im Uni-Café dazugestoßen ist, unterstützt ihn, so gut es geht. „Ich würde mich auch nicht zum Kämpfen verpflichten lassen wollen“, sagt sie. „Ich will frei entscheiden können, wie ich am Sieg der Ukraine mitarbeite.“
Michail Nasarenko ist überzeugt: „Wenn du nicht gut ausgebildet bist, schadest du an der Front mehr, als dass du hilfst.“ Er hat keine militärische Erfahrung, nach der Schule hat ihn die medizinische Kommission aus gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst befreit. Nach den Einberufungsregeln im Kriegszustand aber würde man ihn, so befürchtet er, wohl als wehrtauglich einstufen.
Michail Nasarenko hat breite Schultern. Dass er vor allem am Computer arbeitet, verraten sein gerundeter Rücken und die weiche Haut an seinen Händen. „Ich bin kein Outdoor-Typ. Mir würde es nicht einmal in den Sinn kommen, ohne Dusche zu sein und draußen zu übernachten.“ Kurz lacht er über sich selbst, bevor er wieder ernst wird. „Ich würde Depressionen bekommen und die Kameraden belasten.“ Er sagt: „Ich würde an der Front nicht hilfreich sein, aber das interessiert sie nicht. Sie ignorieren völlig, wie du konkret der Ukraine nutzen kannst und welchen Beitrag du schon für die Gesellschaft leistest.“
Von seinem Versteck aus macht Michail Nasarenko sehr viel für die Ukraine: Seit Februar organisiert er mithilfe seiner vielen Kontakte die Versorgung von Flüchtenden. Er kümmert sich um die sichere Unterbringung queerer Menschen und um digitale Weiterbildungsmöglichkeiten für diejenigen, die neben ihrem Zuhause auch noch ihren Job verloren haben. Er sammelt auch Spenden für Armee-Einheiten, denen es an der richtigen Ausrüstung oder sonstigen Mitteln fehlt.
In der Ukraine ist es schon lange kein Widerspruch mehr, links und für das Militär zu sein. Die russische Bedrohung hat spätestens seit 2014 dafür gesorgt, dass die Armee auch in der linken, liberalen, sogar in der queeren Community viel Zuspruch erfährt. Als Verteidigung gegen die homo- und transphobe Ideologie der sogenannten russischen Welt.
„Ich kann doch viel nützlicher sein, wenn ich weiter Spenden und Fördergelder für Projekte akquiriere. Ich will am Ende nicht verantwortlich sein für schlechte militärische Entscheidungen“, sagt Michail Nasarenko.
Viele von jenen, die nicht an der Front kämpfen wollen, rechtfertigen sich gegenüber der taz wie er damit, dass sie im Kampf nicht nützlich wären oder nicht durchhalten würden. Die Angst vorm Sterben, die man wohl als wichtigsten Grund erwarten würde, nennt niemand. Dafür die Panik vor Explosionen. Und die Angst vor dem Töten: Er wisse nicht, ob er im Ernstfall einen Menschen erschießen könne, auch wenn es ein Russe sei, der sein Land gerade brutal zerstöre, sagt ein Mann aus dem Südosten des Landes. „Wenn ich eingezogen werde, verweigere ich mich nicht“, sagt dieser Mann. Selbst melden wird er sich aber nicht.
Michail Nasarenko fände es besser, wenn die Ukraine mit einer Berufsarmee kämpfen würde. Seiner Meinung nach gibt es genügend Freiwillige, die zum Militär wollen: „Wir haben ja schon seit acht Jahren Krieg. Viele wissen, was das bedeutet, und viele wollen auch jetzt an die Front.“
Es regt sich Widerstand
Ob dieser Eindruck stimmt, ist unklar. Nach Angaben der Behörden gibt es keine offiziellen Statistiken darüber, wie viele Personen sich freiwillig zum Militär gemeldet haben. Das sagt jedenfalls ein Stabsleiter der militärischen Landtruppen gegenüber dem ukrainischen Nachrichtenportal liga.net. Er gibt zu bedenken, dass die Zahl der Freiwilligen sinke, viele seien ja schon an der Front. Noch reichten die Meldungen aber aus: In allen Regionen seien die Wartelisten voll, so der Armeesprecher.
Der Leiter eines Kiewer Mobilisierungsbüros dagegen äußerte sich im August in einem Interview mit dem Nachrichtenportal hromadske.org deutlich negativer. Das Interesse der Freiwilligen sei im Unterschied zu den ersten Wochen stark zurückgegangen: „Auf 100 Personen kommen jetzt vielleicht noch 3.“
Je länger der Krieg dauert, je mehr Männer eingezogen werden und je mehr Opfer es gibt, desto größer dürfte auch der soziale Druck auf Menschen wie Michail Nasarenko werden. Schon jetzt sind sie Ziel für Frust und Aggression, vor allem in den sozialen Netzwerken. In den ersten Kriegsmonaten wurden bei Tiktok und Facebook Posts geteilt, in denen gefordert wurde, dass alle Wehrfähigen, die das Land verlassen haben, ihre Staatsbürgerschaft verlieren sollten.
Influencer mit großer Gefolgschaft drohten ihnen im Internet Strafverfolgung an, wenn sie sich trauten zurückzukommen, erinnert sich ein aus gesundheitlichen Gründen Ausgereister. Auch im persönlichen Umfeld kann das schwierig werden: Er erzählt, dass seine Schwägerin ihm Verrat vorwarf an dem Tag, als sein Bruder und ihr Mann an die Front in die Region Donezk geschickt wurde.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Gleichzeitig wird die öffentliche Debatte um die Mobilisierung immer lauter. Da das Kriegsrecht Kundgebungen oder Demonstrationen verbietet, bleibt als Protestmittel gegenüber der Politik nicht viel. Auch deshalb startete der ukrainische Rechtsanwalt Oleksandr Humirow aus Odessa im Mai seine Online-Petition gegen die Wehrpflicht und das Ausreiseverbot für wehrfähige Männer. In der Begründung schrieb er: „Eine Person, die gezwungen wird, ‚Verteidiger‘ zu werden, wird die Ukraine nicht effektiv schützen.“ Die Art der Mobilisierung vergleicht er mit „totalitären Methoden“.
Manches hätte Michail Nasarenko wohl sehr ähnlich formuliert. „Nicht jeder sollte mit einem Gewehr im Graben sitzen. Viele sind in anderen Bereichen effektiver. Insbesondere in der Wirtschaft, deren Steuern den Haushalt des kriegführenden Landes füllen“, heißt es. Für den Rechtsanwalt sind das Ausreiseverbot und die undurchsichtigen Mobilisierungspraktiken vor allem ein Nährboden für Korruption: „Zu welchem Zweck geht man so vor? Um Bestechungsgelder zu erhalten – die Logik legt nichts anderes nahe.“
Oleksandr Humirows Petition wurde diskutiert, auch von vielen kritisiert, weil sie die Kampfmoral schwächen könnte. Wenige Wochen nach Petitionsstart löschte Humirow sein Facebook-Konto. Auf Telegram schreibt er weiter kritisch über juristische Vorgänge, reagiert aber nicht auf Direktnachrichten der taz.
Seine Petition hatte schon nach drei Tagen mehr als die nötigen 25.000 Unterschriften, die den ukrainischen Präsidenten zu einer Reaktion verpflichten. Selenski reagierte mit Unverständnis. In der offiziellen Antwort beruft er sich auf das geltende Kriegsrecht, zählt Paragrafen auf, die die Dienstpflicht und das Ausreiseverbot juristisch stützen.
Die Ukraine verweigere durch das verhängte Kriegsrecht ihren Bürgern ein Menschenrecht, kritisiert der Verein Connection, der sich von Offenbach aus international für die Rechte von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren einsetzt. Über die Partnerorganisation „Ukrainische Pazifistische Bewegung“ wisse der Verein von Tausenden eröffneten Gerichtsverfahren wegen Kriegsdienstverweigerung, sagt Mitglied Rudi Friedrich. Es drohten jahrelange Haftstrafen. „Das ist fürchterlich. Das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung gilt doch nicht nur in guten Zeiten.“ Der Verein schätzt die Zahl der ukrainischen Wehrdienstunwilligen auf mehrere 10.000. Wer nicht irgendwie ins Ausland komme, müsse sich verstecken. „Krieg bringt immer eine starke Polarisierung und Militarisierung der Gesellschaft mit sich“, sagt Friedrich. Die Armee werde verherrlicht. „Das führt zu einer starken Ausgrenzung derer, die da nicht mitmachen wollen. Sie sind einem großen Risiko ausgesetzt.“
Das gilt nun wohl auch für Russland. Nach Putins Mobilmachung in dieser Woche dürfen Russen − bislang offiziell Reservisten − im wehrpflichtigen Alter ihren Wohnort nicht mehr verlassen. Die Bilder von den russischen Grenzübergängen und Flughäfen zeigen aber, dass sehr viele versuchen, der Rekrutierung zu entgehen.
Der Krieg geht weiter, die Wehrpflichtregelung, die in der Ukraine zu Friedenszeiten galt, wird so bald nicht zurückkommen. Die ukrainische Regierung steuert zwar nach, allerdings nur minimal: Seit Juli diskutiert das Parlament einen Gesetzentwurf, der einige Regeln zur Wehrpflicht verändern würde. So soll es nun extra für IT-Spezialisten − ein den Autoren des Entwurfs zufolge besonders wichtiger Wirtschaftszweig für die Ukraine − lockerere Ausreisemöglichkeiten geben. Angehörige von im Krieg Gefallenen könnten ebenfalls von der Verpflichtung zum Kampf entbunden werden.
Über die Sommermonate war auch vielfach von einer geplanten Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen ab dem 1. Oktober berichtet worden. Damals hieß es, dass sich zumindest Frauen aus bestimmten Berufsgruppen ab dem Herbst bei der Armee registrieren sollten, damit das Militär im Bedarfsfall auf sie zurückgreifen kann. Anfang September meldete das Verteidigungsministerium aber, dass die Ausweitung aktuell nicht umgesetzt würde.
Kritik an den Mobilisierungspraktiken kommt indes auch aus der Armee selbst. Der Blogger und Feldwebel Waleri Markus kritisierte im Juli bei Facebook, dass die auf der Straße „eingefangenen“ Soldaten an der Front „mehr Probleme machen, als sie Nutzen bringen“. Nur „10 bis 15 Prozent“ von ihnen, so schreibt er, könne er gut einsetzen. Die überwiegende Mehrheit sei „eine unmotivierte Masse“, die nur Schwierigkeiten mache und ihn unnötig Zeit und Kraft koste. Eine rechtliche Regelung, wie er die Störenfriede zurückschicken könne, gebe es nicht, beklagt er. Der Beitrag des Feldwebels bekam 27.000 Likes und wurde 1.700 Mal geteilt. Es ist nur einer von vielen Beiträgen, in denen er interne Probleme der Armee thematisiert.
Und sogar Verteidigungsminister Oleksij Resnikow selbst verurteilte die Rekrutierung auf der Straße. Durch das willkürliche Verteilen von Vorladungen bekomme der Armeedienst das Image eines „Strafdienstes“, räumte er gegenüber BBC Ukraine ein. Dabei sollten Soldaten aus Überzeugung und Stolz ihr Land verteidigen. „Manchmal wird die Vorladung für das Überschreiten der Geschwindigkeitsbegrenzung vergeben“, sagt Resnikow. „Ich halte das für völligen Unsinn, denn dem Land zu dienen und das Land zu verteidigen – das sollte definitiv keine Bestrafung sein.“ Resnikow bezeichnet dieses Vorgehen als „Exzesse“. Sie zu unterbinden, hat er offenbar noch nicht geschafft.
Michail Nasarenko ist überzeugt, dass er seinem Land nichts schuldig ist. „Ich finde, ich habe schon so viel für die Ukraine gemacht: über zehn Jahre Aktivismus, Arbeit für ukrainische Unternehmen, saubere Steuern. Das muss doch reichen.“
Er hat noch ein Argument, das ihm wichtig ist. Er richtet sich von seinem Sofa im Café auf. Ruhig, aber bestimmt, sagt er: „Seit Jahren höre ich als queere Person, dass ich nicht gleich bin. Aber jetzt, wo es ans Kämpfen geht, bin ich plötzlich doch gleich genug wie alle anderen Männer?“ Kurz überlegt er. „Dieser Staat will jetzt von mir, dass ich bereit bin, für dieses Land zu sterben. Bevor ich für euch kämpfe, will ich erst die gleichen Rechte und meinen Partner heiraten können!“
Auch für die Ehe für alle gab es jüngst eine erfolgreiche Petition, die beim Präsidenten auf deutlich mehr Verständnis stieß als die mobilisierungskritische Petition zuvor. Doch der Queer-Aktivist glaubt nicht an einen schnellen Durchbruch. Er wird sich weiter engagieren, weiter online arbeiten.
Ändert sich an seiner Situation mittelfristig nichts, überlegt Michail Nasarenko, ob er nicht doch nach einer passenden Promotionsstelle im Ausland suchen soll. Es wäre für ihn eine Möglichkeit, dem Kriegsdienst zu entkommen. Möglichst legal. Und: „Möglichst nah an der Ukraine, um weiter meine Liebsten sehen und unterstützen zu können.“
Bis dahin muss er sich weiter verstecken. Licht aus, Vorhänge zu.
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