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Kriege und VölkerrechtKollektivbestrafung als neue Normalität

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

In Kriegsgebieten wird das Völkerrecht gebrochen. Früher haben Täter ihre Taten noch bestritten, heute rechtfertigen sie sie als Selbstverteidigung.

Am Ende bleibt Trauer, Verzweiflung und Tod, immer mehr davon gezielt gegen unbeteiligte Zi­vi­lis­t*in­nen Foto: Evgeniy Maloletka/ap/dpa

S umy, Ukraine, Palmsonntag, 13. April. Am Vormittag fliegt Russland hier den bis dahin tödlichsten Angriff auf die Ukraine in diesem Jahr. Eine Präzisionsrakete des Typs Iskander trifft ein ziviles Gebäude. Als Nothelfer herbeieilen, explodiert über ihnen eine zweite solche Rakete, diesmal mit Streumunition. Mindestens 35 Tote und 120 Verletzte werden am Ende gezählt; die Straßen sind belebt, es finden gerade Gottesdienste statt.

Zamzam, Sudan, Dienstag vor Ostern. US-Wissenschaftler veröffentlichen Satellitenaufnahmen des größten Flüchtlingslagers von Sudan, in dem Hunderttausende Menschen leben, geflohen vor dem Terror der RSF-Miliz in Darfur. Am Palmsonntag hat der Terror sie eingeholt. Die RSF hat Zamzam erobert und großflächig in Brand gesteckt, wie Satellitenbilder zeigen. Viele Menschen werden getötet, Hunderttausende fliehen in die Wüste, ohne Nahrung, ohne Wasser.

Gaza, 16. April. Ein israelischer Luftangriff am frühen Morgen tötet die renommierte palästinensische Fotografin Fatima Hassouna in ihrem Elternhaus in Gaza-Stadt. Am Vortag erst war der Dokumentarfilm „Put your soul on your hand and walk“ der exilierten iranischen Regisseurin Sepideh Farsi über Hassounas Arbeit in Gaza für das nächste Filmfestival in Cannes ausgewählt worden. Nun ist die Heldin des Films, ohnehin die einzige Überlebende in ihrer Familie, tot, zusammen mit zehn weiteren Menschen in dem Haus.

Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilpersonen wird nicht nur ignoriert, sie wird für gegenstandslos erklärt

Sumy, Zamzam, Gaza: In allen Fällen ist die internationale Reaktion – nichts. Es gibt vereinzelte Äußerungen des Entsetzens, aber sonst: nichts. Gegen den russischen Raketenterror: nichts. Gegen das Wüten der sudanesischen Kriegsführer: nichts. Gegen die israelischen Angriffe auf Zivilisten: nichts. Man könnte einwenden: Was der Rest der Welt sagt, ist egal. Aber für die Opfer erscheint es so, als seien sie es, die egal sind. Als seien sie: nichts.

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Diese Karwoche 2025 bündelt wie in einem Brennglas die neue, furchtbare Weltordnung des Jahres 2025. Systematische Angriffe auf Zivilpersonen sind schon lange Bestandteil aggressiver Kriegsführung. Neu ist dieses Jahr, dass dies als Normalität erscheint, nicht als Ausnahme, und dass jenseits der einzelnen Angriffe die kollektive Bestrafung ganzer Bevölkerungen dafür, dass sie überhaupt existieren, offen akzeptiert wird. US-Präsident Trump verhandelt mit Russlands Präsident Putin über die Zerschlagung der Ukrai­ne, während russische Politiker und TV-Moderatoren über Atombomben auf Westeuropa diskutieren und Scharfmacher Dmitri Medwedjew kurz vor der Osterzeit den Bibelspruch aus dem Buch der Offenbarung verbreitet: „Denn es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?“

Der „Tag des Zorns“ ist in der christlichen Überlieferung der Eröffnungstag des Jüngsten Gerichts, an dem laut dem katholischen Requiem sich „die zeitliche Welt in Asche auflöst“. Im Nahostkonflikt dienen „Tage des Zorns“ traditionell der Mobilisierung für die Vernichtung Israels. Seit dem entsprechenden Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 propagiert die israelische Rechte ihrerseits die Vernichtung der Palästinenser in Gaza, offen unterstützt etwa von Trump. 30 Prozent des Gaza­strei­fens seien inzwischen von Palästinensern „geräumt“, lobte am Aschermittwoch Israels Verteidigungsminister Israel Katz.

Klare Brüche des Völkerrechts

Seine Regierung bombardiert den Rest des Gebiets weiter und blockiert seit 2. März jegliche humanitäre Hilfe für Gaza, auch Lebensmittel und Medikamente, komplett. „Israels Politik ist klar: Keine humanitäre Hilfe wird nach Gaza hineinkommen“, sagt Katz. Vor einem Jahr stießen Gaza-Hilfsblockaden noch auf inter­na­tio­na­len Protest. Heute sieht man zu.

Alle diese Akte gegen Zivilbevölkerungen sind klare Brüche des humanitären Völkerrechts. Früher haben die Täter solche Taten gern geleugnet. Heute rechtfertigen sie sie: Wir haben militärische Ziele angegriffen, heißt es. Oder: Wir handeln in Selbstverteidigung, wir sind die Opfer! Man vernichtet einen kollektiven Gegner, weil dessen nackte Existenz angeblich die eigene bedroht. Das humanitäre Völkerrecht gebietet eigentlich, im Krieg zwischen Kombattanten und Zivilpersonen präzise zu unterscheiden. In diesem Jahr wird diese Unterscheidung nicht nur ignoriert, sie wird für gegenstandslos erklärt.

Das heißt nicht nur, dass niemand mehr sicher ist. Es heißt auch, dass sich niemand mehr in der Hoffnung wiegen kann, bei eigenem Nichtstun in Ruhe gelassen zu werden. Der Terror kann jeden treffen, sobald ein Kriegsführer der Gruppe, der man selbst angehört, zum Feind erklärt wird. Neutralität ist da keine Option. Solidarität mit denen, die der eigenen Vernichtung trotzen, ist in diesem finsteren Jahr 2025 die einzige Realpolitik.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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3 Kommentare

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  • Zu der Gaza-Operation muss natürlich angemerkt werden, dass die Grenzen zwischen Kombattanten und Zivilisten hier sehr fließend sind und rein logistisch gesehen ein Projekt wie Ten/Seven enormem Rückhalt auch aus der sogenannten palästinensischen Zivilgesellschaft bedurfte.

    • @JohnReed:

      Das ist genau die Art Rechtfertigung, die Autor Johnson meint.

  • Es ist ja nicht nur so, dass die Täter diese Verbrechen rechtfertigen, auch mit ihnen Verbündete Regierungen und ja auch zu oft die Medien. Statt das Völkerrecht zu stärken, wird es gerade von den Staaten die für seine Entstehung gekämpft haben, den westlichen Demokratien immer mehr ausgehöhlt vor allem dadurch, dass es selektiv angewendet wird- immer für die Feinde, selten bis nie für die Verbündeten. Dabei sollten Völkerrecht und Menschenrechte universal sein- aber allein in der Konzipierung der UN oder besser des Sicherheitsrates, zeigte sich von Anfang an, das dies nie wirklich beabsichtigt war. Mit der Schaffung des Vetorechts, in der Hand von 5 Ländern des globalen Nordens wohlgemerkt, haben diese Staaten von Anfang an erklärt, dass sie über dem Recht stehen. Und indem sie ihre eigenen Interessen über Völkerrecht stellen, kommen sie ihrer Hauptaufgabe der Konfliktlösung nicht nach, im Gegenteil es gibt genug Untersuchungen das sie sogar Konflikte fördern. Undemokratisch ist das Konzept sowieso. Schluss mit einer regelbasierten Ordnung in der sich jeder Regeln zurecht legt, wie sie ihm gerade passen, wir brauchen eine universale völkerrechts- & menschenrechtsbasierte Ordnung.