: Krieg um eine Ausstellung
Die Ausstellung über den „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945“ wurde nach Kritik an ihrer Methodik zurückgezogen. Das Hamburger Institut für Sozialforschung und sein Direktor Jan Philipp Reemtsma haben die Kritik zum Anlass genommen, die Schau im Grundsatz zu überarbeiten. Steht mit ihrer Neukonzeption für das nächste Jahr ein Paradigmenwechsel bevor? Anmerkungen zu einer politischen Kontroverse
von CHRISTIAN SEMLER
Im Milieu der konservativen Kritiker der ursprünglichen Ausstellung war es nie zweifelhaft, dass es sich bei dem Unternehmen von Hannes Heer um einen Ausläufer des Rachefeldzugs handele, den die Achtundsechzigergeneration gegen ihre Väter unternommen habe. Einige der Kritiker gingen dabei so weit, die angebliche und auch wirkliche Nazivergangenheit von Vätern der Ausstellungsmacher als wichtigstes Abrechnungsmotiv der Söhne auszumachen.
Die bevorzugte Metapher dieser Sichtweise war und ist die des Schauprozesses. Ankläger und Richter wären danach identisch, das Urteil stünde von vornherein fest. Nicht um kritische Differenzierung, sondern um summarische Verurteilung sei es stets gegangen. Bis in die jüngste Zeit findet sich, beispielsweise in den Aufsätzen von Thomas Medicus in der Frankfurter Rundschau oder von Bernd Hüppauf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Bild vom Tribunal der Achtundsechziger, dessen Zeit jetzt abgelaufen sei.
Eine verführerische Sichtweise, nimmt sie doch Motive der Selbstkritik auf, die gerade Angehörige der Achtundsechzigergeneration hinsichtlich ihrer früheren Selbstgerechtigkeit übten. Absichtsvoll wird bei diesem Gegenangriff vergessen, dass es die systematische Gesprächsverweigerung vieler Väter war, die ihre Kinder damals in die Konfrontation trieb.
Das „Beschweigen“ der Vergangenheit war jedoch keineswegs Vorbedingung dafür gewesen, dass die Deutschen sich schließlich aus Überzeugung für die Demokratie entschieden. Eher könnte man umgekehrt sagen, dass erst die Revolte der Achtundsechziger trotz ihrer oft undemokratischen Züge den demokratischen Werten in der Bundesrepublik zum Durchbruch verhalf. „Lasst uns darüber reden“: Schon damals ging es in erster Linie nicht um Verurteilung, sondern ums Verstehenwollen. Aber rannte die Ausstellung im Jahr 1995 nicht offene Türen ein, war nicht schon alles beredet, war die Ausstellung etwa nicht Ausdruck einer allzu billigen Selbstvergewisserung? Es lohnt sich, den Band „Eine Ausstellung und ihre Folgen“, den das Institut für Sozialforschung 1999 publizierte, nochmals zur Hand zu nehmen, um sich ein Bild von ihrer Rezeption zu verschaffen.
Wieder erfahren wir von der Schwierigkeit, einen Dialog zwischen den überlebenden Kriegsteilnehmern und der jetzigen Enkelgeneration zu eröffnen, wieder geht es um Schweigen, um Sprachlosigkeit. Und verfehlte das Argument vieler Historiker, die Ausstellung habe wissenschaftlich nichts Neues erbracht, nicht die Intention der Ausstellungsmacher, ein nach wie vor gesellschaftsmächtiges Selbstbild – das vom Landser, der mit sauberen Händen aus dem Inferno kam – zu erschüttern?
Ruft man sich ins Gedächtnis, wie umstandslos vom Gros der Achtundsechzigerbewegung die NS-Machtergreifung als Befreiungsschlag der Großbourgeoisie interpretiert wurde („Kapitalismus führt zum Faschismus“), so kann man sogar sagen, dass die Wehrmachtsausstellung sich viel stärker als der Sicht der Revoltierenden Ende der Sechzigerjahre einer neuen Betrachtungsweise anschloss, die den „gewöhnlichen Faschismus“, seine Alltäglichkeit, ins Zentrum stellte.
Davon zeugt auch die Eingangsthese der Ausstellungsmacher, die Wehrmacht sei die größte Schnittstelle zwischen der männlichen deutschen Bevölkerung und dem nazistischen Gewaltapparat und seiner Ideologie gewesen. Vom konkreten Verhalten einzelner Soldaten handeln auch die entsprechenden Untersuchungen der „Oral History“, die sich seit den Siebzigerjahren steigender Beliebtheit erfreut. In der Ausstellung selbst sah man Besucher, die sich mit der Lupe oder mit Familienfotos in der Hand auf Spurensuche begaben.
Dieses Hantieren mit dem Vergrößerungsglas hätte für die Ausstellungsmacher ein wichtiger Hinweis sein müssen. Sie hatten sich, verglichen mit der Praxis anderer Fotoausstellungen, einer beträchtlichen Mühe unterzogen, Ort und Zeitpunkt der Fotoaufnahmen zu verifizieren. Aber sie waren ebenso der Auffassung zugeneigt, die Fotos hätten in Teilen eine textillustrierende Funktion, wo sie nicht gar, in dem „Eisernes Kreuz“ betitelten Ausstellungsteil, durch die Anhäufung des Grauens Erschütterung und Abscheu hervorrufen sollten.
Demgegenüber wurden Stimmen laut (in der taz in einem Beitrag von Brigitte Werneburg), die darauf bestanden, dass Fotos grundsätzlich unter der Tatortperspektive analysiert werden müssten. Demnach wäre das historische Foto Beweismittel im historisch-kriminalistischen Prozess der Aufdeckung. Generell gesprochen: Geschichte ist kein Gerichtsverfahren, aber die Arbeit des Historikers hat viel gemein mit der des Kriminalisten: Spurensicherung am Tatort, Vernehmung von Tatzeugen, Suche nach dem Motiv des möglichen Täters, Dingfestmachen.
In dieser Hinsicht ist der oben zitierte Aufsatz von Bernd Hüppauf instruktiv, weil er die Disziplin der Kunstgeschichte, insbesondere die Bilderklärungen der Schule von Aby Warburg, zur Hilfe ruft. Gerade Warburgs Ruhm gründete sich auf detektivische Pionierleistungen, so auf seine Entdeckung, dass der italienische Kaufmann Portinari im 15. Jahrhundert nachträglich sein Konterfei auf dem Körper eines armen Sünders hatte abbilden lassen, nachdem er das Gemälde, eine Darstellung des „Jüngsten Gerichts“, dem ursprünglichen Auftraggeber unter dubiosen Umständen abgeluchst hatte.
Hier wie im historischen Foto auch geht es also ums genaue Hinsehen, um die Herstellung des ursprünglichen Zusammenhangs, um die Hinzuziehung von Aktenmaterial. Also auch um die Rekonstruktion der ursprünglichen Fotosequenzen, die Person des Fotografen, die Differenz zwischen ursprünglicher und späterer Beschriftung. Nachträglich sind wir natürlich alle klüger. Es gehört, was in diesem Zusammenhang unbedingt gesagt werden muss, zu den Verdiensten der Ausstellung, gerade durch ihre Fehler der Diskussion über das Foto als historische Quelle neuen Auftrieb gegeben zu haben.
Gerade weil die Wehrmachtsausstellung kein Durchmarsch durch sperrangelweit geöffnete Türen war, begingen die Ausstellungsmacher den Fehler, sich zu verschanzen, auch gegenüber berechtigter Kritik. Die Tendenz zur Festungsmentalität zeigte sich besonders dort, wo es darum ging, zu klären, in welchem Verhältnis Verbrechen, an denen die Wehrmacht beteiligt war, zu den vorherigen Untaten des sowjetischen Sicherheitsdienstes beziehungsweise zu Pogromen der einheimischen Bevölkerung an ihren jüdischen „Mitbürgern“ standen.
Die Ausstellungsmacher lehnten eine solche Untersuchungsweise ab, weil sie dahinter das ewig entschuldigende Muster der Aufrechnung, der Relativierung deutscher Verbrechen zu erkennen glaubten, mithin die Einstellung ihrer innenpolitischen Gegner. Aber vielen, die darauf bestanden, die Vorbedingungen des deutschen Vernichtungsfeldzugs zu erörtern, ging es überhaupt nicht darum, die Verbrechen der deutschen Seite nach dem Vorbild des Historikers Ernst Nolte als Folgeerscheinungen der sowjetischen Verbrechen darzustellen.
Sie sahen die Darstellung der Vorgeschichte als notwendig an, weil es zu Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion tatsächlich „Zonen der Vernichtung“ gegeben hatte, wo Aktionen und Gegenaktionen sich in einer mörderischen Spirale hochdrehten, wo es auch Spielraum gab für unterschiedliche Haltungen der Wehrmachtskommandeure, sei es in verschärfender, sei es – seltene Ausnahme – in zurückhaltender Ausführung der Befehle. Dies nicht erkannt zu haben war einer der Gründe für Fehlzuschreibungen von Fotos im Zusammenhang mit den Morden in der Westukraine im Sommer 1941.
Jan Philipp Reetsam, Kopf des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat die Überprüfung der Ausstellung von vornherein auch als Chance begriffen, noch einmal über die Konzeption schlechthin nachzudenken. Sein jetziger Vorschlag, der von der beispielhaften Demonstration von Verbrechen abrückt und sich an Problemkomplexen orientiert, stellt sicher eine vernünftige Diskussionsgrundlage dar, hat aber auch seine Tücken.
Wenn dem Verbrechensbegriff selbst künftig eine zentrale Bedeutung zukommen soll, so wird man eine vollständige Dokumentation der Probleme bieten müssen, die die universelle Geltung völkerrechtlicher Normen aufwirft, also auch die Frage, bis zu welchem Grad sich die westlichen Alliierten selbst an die von ihnen postulierten rechtlichen und moralischen Normen gehalten haben. Diese Problemstellung ist brennend aktuell, stößt sich doch die Forderung nach internationaler Geltung der Menschenrechte jenseits des staatlichen Souveränitätsprinzips an der selektiven Beurteilung der Fälle, wo menschenrechtliche Intervention geboten zu sein scheint.
Beträchtliche Irritationen hat anlässlich der Vorstellung der Neukonzeption nicht diese selbst ausgelöst, sondern die Erklärung Reemtsmas, von „Geschichtspolitik“ abrücken und sich der historischen Anthropologie als Leitidee zuwenden zu wollen. Eigentlich muss es sich zurückwenden heißen. Denn die Ausstellung des Instituts von 1995, Titel: „100 Tage und ein Jahrhundert“, anlässlich des vierzigsten Jahrestags des Kriegsendes hatte sich der Vorstellung verpflichtet gefühlt, den Auswirkungen von Gewalt und Destruktivität während einer langen historischen Periode, eben des 20. Jahrhunderts, nachzugehen und auch deren Voraussetzungen in der gesamten Geschichte des europäischen „Prozesses der Zivilisation“ aufzudecken. Diese Perspektive möchte Reemtsma jetzt wieder aufnehmen und durch sie die Arbeit des Instituts strukturieren.
Schon an die damalige Ausstellung war die kritische Frage gerichtet worden, ob sie nicht ganz unterschiedliche Komplexe von Terror und Massenvernichtung in einer Art gesichtslosen Vision des „Jahrhunderts der Barbarei“ zusammenschießen lässt. Ob, mit anderen Worten, die Geschichte nicht als Nacht erscheint, in der alle Katzen grau sind. Heute begegnet Reemtsma Einwänden dieser Art mit dem Hinweis, er wolle sowohl Erscheinungen langer Dauer, die strukturell Gewaltverhältnisse begründen, untersuchen als auch die Bedingungen des jähen Umschlagens historischer Konstellationen. Gerade die Kombination der Blickwinkel eröffne den größten Erkenntnisgewinn.
Bei dieser Auffassung gilt es allerdings zu bedenken, dass die großen Erfolge einer „historischen Anthropologie“ auch in Deutschland gerade dort zu verzeichnen waren, wo es um die Untersuchung lang wirkender Faktoren auf sehr kleinem Raum, zum Beispiel dem einer Dorfgemeinde, ging, wo bisher unbeachtete Dokumente des Alltagslebens erschlossen wurden, wo Tagebücher ganz gewöhlicher Menschen ebenso Berücksichtigung fanden wie Berichte über Hochzeiten, Akten über Erbschaftsangelegenheiten, Rechtsstreitigkeiten, Friedhöfe.
Die historische Anthropologie enthüllt, wo sie erfolgreich arbeitet, die Geschichte vom Entstehen, der langen Wirkung, natürlich auch der Zersetzung von Mentalitäten. Aber gerade von der Untersuchung von Mentalitäten, wie sie beispielhaft für die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg in Omer Bartovs Arbeit zu „Hitlers Wehrmacht“ entwickelt worden ist, möchte Reemtsma abrücken. Er will Gesetzmäßigkeiten aufdecken wie das seinen Recherchen nach stets wiederkehrende Prinzip, erst Verbrechen an einer Bevölkerungsgruppe zu verüben, um diese anschließend, aus Furcht vor Vergeltung, durch die Zuschreibung unwandelbarer negativer Charaktereigenschaften zu stigmatisieren.
Sicher gibt es solche verallgemeinerungsfähigen Sachverhalte. Aber führt diese Suche nach Konstanten menschlichen Verhaltens, selbst wenn sie sich des jeweiligen historischen Kontextes rückversichern, nicht gefährlich nahe an das Terrain, auf dem Gemeinsprüche wie der von der dünnen Zivilisationsdecke oder vom Umschlagen einer instrumentellen Vernunft in Barbarei blühen?
Und würden damit fruchtbare Forschungshypothesen über die Gewalt im neuzeitlichen Zivilisationsprozess nicht zu einer Geschichtsphilosophie versteinert, in der Fakten nur noch die Rolle von Belegen für ein vorgefasstes Interpretationsschema zugebilligt wird?
Das allerdings wäre tatsächlich ein entscheidender Paradigmenwechsel.
CHRISTIAN SEMLER, 61, taz-Autor seit 1989, lebt im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg
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