Krieg in der Ukraine: Wie Russland Jugendliche für den Terror gewinnt
Über Telegram werden ukrainische Jugendliche rekrutiert, um Terroranschläge zu verüben. Für die jungen Täter geht der Auftrag oftmals tödlich aus.

Im obersten Stockwerk eines Hochhauses bricht nach einer Explosion Mitte März ein Feuer aus. Kurz darauf gehen zwei Jugendliche durch einen Torbogen in Richtung Bahnhof, es kommt erneut zu einer Explosion. Einer der beiden, 17 Jahre alt, ist auf der Stelle tot. Sein 15-jähriger Kumpel verliert beide Beine.
Auf dem Messengerdienst Telegram hätten Russen Personen, die Explosionen im Zentrum von Iwano-Frankiwsk organisieren würden, mehrere tausend Dollar versprochen. Die beiden Jugendlichen hätten dem Angebot geglaubt, den Sprengstoff nach Anweisungen aus sozialen Netzwerken hergestellt und ihn als Thermoskannen getarnt.
Der russische Geheimdienst habe per Fernsteuerung die Bombe, die sich bei den Jugendlichen befand, als auch eine zweite, die die Jugendlichen in der Wohnung ließen, gezündet. In den Fall sollen auch zwei 15-jährige Mädchen verwickelt sein, die an der Vorbereitung des Terroranschlags beteiligt gewesen sein könnten.
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
„Gekaufte Ukrainer“
Wie die Ereignisse der vergangenen Monate zeigen, ist dieses Vorgehen mittlerweile gängige russische Praxis. Zunächst hatten Russen Ukrainer „gekauft“, um Autos anzuzünden. In den vergangenen sechs Monaten sind sie zu Terroranschlägen und der Liquidierung der Täter übergegangen.
Immer öfter kommt es zu Explosionen, wenn sich Ukrainer Menschenmengen oder wichtigen Gebäuden nähern, zum Beispiel Büros von Rekrutierungszentren oder Strafverfolgungsbehörden. Im westukrainischen Ternopil wurde eine 14-Jährige festgenommen, die ebenfalls von Russen für einen Anschlag angeworben worden war.
Zuvor hatten sie das Smartphone des Mädchens gehackt und sie mit Fotos erpresst. Das Mädchen erklärte sich schließlich bereit, Sprengstoff herzustellen, den sie unter einem Auto in der Nähe eines Polizeiverwaltungsgebäudes platzierte. Die Russen hatten geplant, den Sprengstoff neben der Schülerin zu zünden.
In Tschernihiw versuchten Russen, ein 15-jähriges Mädchen zu einem Selbstmordattentat zu überzeugen. Sie zwangen sie, Sprengstoff zur Polizei zu bringen. Die Schülerin entging dem Tod nur, weil die Spionageabwehr des ukrainischen Geheimdienstes (SBU) vorab von den Anschlagsplänen Kenntnis erhalten und die Bombe unschädlich gemacht hatte.
Bürgermeister verspricht Präventionsarbeit
Nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene lassen sich auf dubiose Vorschläge ein, die in Terroraktionen enden.
Nach den Explosionen in Iwano-Frankiwsk versprachen der Bürgermeister der Stadt, Ruslan Martsinkiw, und die örtliche Polizei, „die Präventionsarbeit“ unter den jungen Leuten zu verbessern und den Menschen noch einmal zu erklären, dass der Feind in der Nähe sei und sie wachsam sein müssten. „Egal wie schwierig es ist und wie wenig Zeit Sie auch haben, sprechen Sie mit Ihren Kindern“, sagt der Politikwissenschaftler Serhiy Shturkhetskyy aus Riwne.
Er nennt drei Mythen, mit denen Russen ukrainische Jugendliche zu Terroranschlägen verleiteten: „Mir wird nichts passieren“, „Alles ist geheim, niemand wird mich finden“ und „Sie werden mich bezahlen, das Geld wird kommen.“
Nach jeder Explosion werden die ukrainischen Geheimdienste nicht müde, diese Mythen zu widerlegen. Sie sagen, dass die Bewegungen des Geldes leicht zu verfolgen sei, aber meistens bezahlten die Russen die Täter von Terroranschlägen nicht. Stattdessen würden sie die Jugendlichen einfach töten, indem sie mit einem Anruf auf dem Mobiltelefon einen Sprengsatz aus der Ferne zündeten.
Diskussion um Blockade von Telegram
Die Zusammenarbeit mit dem Feind sei nicht nur ein Verbrechen, sondern berge auch die Gefahr, Opfer der eigenen Auftraggeber zu werden. Rekrutiert werden die Jugendlichen über soziale Netzwerke und Instant Messenger. Laut Jaroslaw Jurtschyschyn, Vorsitzender des Ausschusses für Meinungsfreiheit des ukrainischen Parlaments, machten die jüngsten Explosionen erneut die Notwendigkeit deutlich, Telegram in der Ukraine zu blockieren. Die Diskussion darüber dauere seit Beginn des Krieges an.
Juri Juzitsch, Leiter bei der ukrainischen Pfadfinderorganisation „Plast“, weist auf ein globaleres Problem hin: In der Ukraine gebe es jetzt kaum Zeit, sich um Kinder zu kümmern.
In Russland hingegen seien in den vergangenen zehn Jahren systematisch mehr als ein Dutzend nationale Jugendbewegungen mit einer jährlichen Finanzierung von Hunderten Millionen Dollar aufgebaut worden. Laut Juzitsch seien in der Ukraine mehr als 95 Prozent der Jugendlichen sich selbst überlassen. Dieses ideologische Vakuum lasse sich leicht durch Moskauer Narrative und Geld füllen. „Sie betrügen auf Tiktok, sie rekrutieren auf Telegram“, sagt Juzitsch.
Ein sofortiges Verbot dieser beiden sozialen Netzwerke in der Ukraine könne die Rekrutierung allein nicht stoppen. Es müsse überdies darum gehen, ukrainische Heranwachsende für große Jugendnetzwerke zu gewinnen. Anders sei ihre Isolation nicht zu überwinden. „Im Krieg sei es schwierig, alles abzudecken“, sagt Juzitsch. „Wie wir jedoch sehen, ist Gleichgültigkeit gegenüber Kindern im wahrsten Sinne des Wortes tödlich.“
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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