Krieg in der Ukraine: Tag des Krieges

Putin instrumentalisiert den Krieg gegen Nazideutschland für seinen irrsinnigen Angriff gegen die Ukraine. Der „Tag des Sieges“ steht in neuem Licht.

Eine erhängte Putin-Puppe unter den Worten: Avdiivka ist Ukraine

Eine erhängte Putin-Puppe in der umkämpften Kleinstadt: „Avdiivka ist Ukraine“ steht dort Foto: Stringer/reuters

Vor einem Jahr, am Vorabend des sowjetisch-russischen „Tages des Sieges“ am 9. Mai, mangelte es in Deutschland nicht an düsteren Szenarien. Die aggressive Rhetorik russischer Machthaber lieferte einen günstigen Nährboden dafür. Der „Tag des Sieges“ über Nazideutschland, so hieß es, würde zum „Tag der Abrechnung“ mit dem Westen. Eine Kriegserklärung an die Nato sei nicht ausgeschlossen.

Bereits unter Leonid Breschnew in den späten 1960er Jahren wurde der „Tag des Sieges“ zum wichtigsten Feiertag der UdSSR. An diese Tradition knüpft Wladimir Putin an und nutzt den Sieg im Zweiten Weltkrieg für die Abgrenzung vom Westen wie auch für die Rechtfertigung seiner revanchistischen Pläne. Seit Jahren sprechen Re­gime­kri­ti­ke­r*in­nen vom „Siegeswahn“, der die Russische Föderation jedes Jahr Anfang Mai packt.

Heute wird von einem neuen „Vaterländischen Krieg“ gesprochen, wobei die Ukraine und ihre westlichen Partner als „moderne Nazis“ gelten. Im Mai 2022 war die deutsche Gesellschaft von den dramatischen Ereignissen überrumpelt und zutiefst schockiert: Die Bilder aus Butscha und Mariupol enthüllten so erschreckende Kriegsverbrechen, wie man sie im Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Umso befremdlicher wirkten die Menschen, die – in erster Linie aus der ehemaligen UdSSR stammend und von der russischen Propaganda indoktriniert – in deutschen Städten die Politik des Kreml-Chefs im Kontext des „Tages des Sieges“ feierten. Am 9. Mai 2022 hatte Putin wenig Grund zur Freude: Moskau hatte weder militärische Erfolge zu vermelden, noch hatte man Kiew in drei Tagen eingenommen, wie zuvor verkündet.

Feier ohne Flugschau

Die „spezielle Militäroperation“ in zwei Wochen abzuschließen, erwies sich als fatale Fehleinschätzung. Auch die Feierlichkeiten auf dem Moskauer Roten Platz verliefen nicht nach Plan: Die Flugschau wurde abgesagt – angeblich wegen Unwetter. Die Militärparade fand zwar statt, jedoch konnte Putin mit seiner hölzernen Rede das Publikum wenig begeistern. Mit scheinhistorischen Argumenten wollte er seinen Ukraine-Feldzug rechtfertigen. Eine Generalmobilmachung blieb allerdings aus.

In Deutschland atmete man erleichtert auf. Ein blutiges Kriegsjahr ist seitdem vergangen. Die russische Sommeroffensive 2022 brachte den Besatzern noch gewisse Landgewinne. Ihre Frühjahrsoffensive 2023 verpuffte hingegen. Noch Ende September 2022 hat Moskau zwar die Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk annektiert.

Die ukrainischen Offensiven, die zur Rückeroberung der Gebietshauptstadt Cherson und etlicher Gebiete im Raum Donezk und Charkiw führten, konnte die russische Armee jedoch nicht verhindern. Der Untergang des Raketenkreuzers „Moskau“ und der Anschlag auf die Krim-Brücke deckten Russlands eklatante Schwächen auf. Enttäuscht und wütend hat Putin einiges ausprobiert, um den Kriegsverlauf zu ändern. Generäle an der Spitze der Armee wurden ausgetauscht.

Ebenso fand eine extrem unpopuläre Teilmobilmachung statt. Der Kreml ließ ukrainische Städte zerstören, während die berüchtigte Wagner-Gruppe im Raum Bachmut grausam wütete. Die russische Propaganda wurde radikaler und schlachtete den Sieg über Nazideutschland weiter aus: Auf der Tagesordnung standen nun die „Entukrainisierung“ der Ukraine und die „Entnazifzierung“ Europas.

Nato hält an Ukraine-Hilfe fest

Durch den Abtransport von ukrainischen Kindern ins russische Hinterland und durch Angriffe auf das ukrainische Energiesystem wollte der Kreml den Widerstandswillen der Ukraine brechen. Und Putin gab die Hoffnung auf die Schwäche des „dekadenten Westens“ nicht auf, der die Ukraine – beeindruckt durch Atomwaffendrohungen – doch im Stich lasse. Seine Pläne gingen indes bisher nicht auf. Im Mai 2023 steht die von der Nato aufgerüstete ukrainische Armee vor ihrer wohl wichtigsten Schlacht.

Die Ukraine ist inzwischen ein EU-Beitrittskandidat und hat gute Aussichten, spätestens nach dem Krieg in die Nato aufgenommen zu werden. Russland ist hingegen international weitgehend isoliert, zunehmend von China abhängig und wird zudem von einem Diktator geführt, gegen den der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl erlassen hat. Sollte Putin tatsächlich auf die Anklagebank gebracht werden, könnte er keine milde Strafe erwarten.

Der Preis für seine militärischen Abenteuer und Großmachtfantasien ist enorm: Zehntausende und möglicherweise Hunderttausende Soldaten und Zivilisten sind inzwischen tot und verletzt. Millionen Menschen mussten fliehen. Vor einem Jahr stand die Existenz der Ukraine auf der Kippe. Vierzehn Monate nach dem russischen Überfall muss nun der Aggressor selbst um seine Zukunft bangen. Kiew agiert kühn, selbstsicher und – manchmal zum Unmut ihrer westlichen Partner – stets auf eigene Interessen bedacht.

Die russische Atommacht mit der vermeintlich zweitstärksten Armee weltweit steht unter Druck: Kasernen und Öl-Tanks werden auf der Krim und im russisch-ukrainischen Grenzgebiet angegriffen, Schienen beschädigt, Kollaborateure in die Luft gesprengt. Der bislang nicht aufgeklärte Drohnenangriff auf den Kreml am 3. Mai ist eine weitere historische Blamage für Russland.

Irrsinn mit Ansage

Noch im vergangenen Jahr mit Bangen erwartet, blickt der Westen nun entspannt auf Putins Rede am 9. Mai 2023. Mit einer selbstkritischen Reflexion ist nicht zu rechnen. Und an pseudohistorische Referate, flankiert durch krude Verschwörungstheorien, Hetzparolen und Atomdrohungen, hat man sich längst gewöhnt.

Der russische „Siegeswahn“ erscheint heute fast wie selbstverständlich. Auch in Deutschland marschieren Russlands An­hän­ge­r*in­nen zum 9. Mai – vom Schrecken des Krieges unberührt – erneut auf. Es sind weniger geworden. Aber für sie – ähnlich wie für Putin – ist der „Tag des Sieges“ längst zum „Tag des Krieges“ geworden.

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ist 1979 in Minsk geboren. Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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