Soldaten bei einer Gefechtspause

Ukrainische Soldaten am 17. Dezember bei Bachmut Foto: ap

Krieg in der Ukraine:Espresso an der Front

Soldaten sind Ex-Zivilisten, die sich ihres individuellen Seins versichern. Und sei es mit einem Espresso. Ein Text des Schriftstellers Andriy Lyubka.

Ein Artikel von

10.1.2023, 10:55  Uhr

Das wichtigste von all den Dingen, die ich an die Soldaten an der Frontlinie geliefert habe, war eine ­Packung Kaffee. Eine Ein-Kilo-­Packung frisch gerösteten Kaffees aus einer Hipster-Rösterei im Stadtzentrum Uschhrorods. Viereckiges glänzendes Bündelchen mit stilvollem Sticker „Roasted Uganda“. Eine Sache eher für Instagram als für die Front.

Dennoch, es sollte eine ziemlich verteidigende Funktion erfüllen – allerdings nicht den Körper schützen, sondern etwas, was viel wichtiger als dieser ist. Das Menschliche im Menschen. Früher, als ich noch Gedichte schrieb, hätte ich diese merkwürdige Substanz als Seele bezeichnen. Jetzt würde ich versuchen, einen banaleren aber nichtsdestotrotz genaueren Begriff zu nutzen. Der Kaffee half, die Psyche zu schützen, dadurch, dass er ein Gefühl vermittelte, dass du nicht nur ein Stück Fleisch bist, ein Ziel für Scharfschützen und Bomben, sondern ein Mensch. Ein Mensch, mit all seinen Vorlieben und Gewohnheiten.

Ich erinnere mich sehr gut an diesen Morgen. Es war Anfang Mai, wenn die Nächte noch kalt sind, aber morgens die Luft blitzschnell die Wärme und Gerüche einsaugt. Ein Dorf irgendwo bei Slowjansk im Donbas, in dem es jetzt mehr Soldaten als Einheimische gibt. Die Mehrheit der Einwohner ist ausgereist, weil die Umgebung fast jeden Tag beschossen wird. In der Nacht ist es wegen des Lärms der Explosionen unmöglich einzuschlafen. Nachts sind die Explosionen übrigens viel deutlicher wahrzunehmen, sie werden voluminöser und klingen in der dunklen Stille gruseliger, so wie fremder Herzschlag.

Damals kam unser Freiwilligenteam in den Einsatzort der militärischen Einheit zu spät an. Wir waren zu lange an den Militärkontrollpunkten kontrolliert worden, der Weg war anstrengend, ohne Mobilfunkempfang verliefen wir uns ein wenig auf unbekannten Straßen, und so kamen wir in dem Moment an, als es noch nicht komplett dunkel war, aber man trotzdem das Licht einschalten würde.

Das hieß, dass wir zusammen mit den Soldaten übernachten mussten – aus dem Ort in der Nacht rauszufahren war wegen der Verdunkelung fast unmöglich. Onlinekarten funktionierten nicht, die Ortschaft war uns unbekannt, die Scheinwerfer einzuschalten verboten – in so einer Situation wäre es absolut denkbar, unabsichtlich russischen Positionen zu begegnen. Also blieben wir dort zum Übernachten.

Als wir nach kurzem und verstörendem Schlaf, der durch Geräusche der fernen und näheren Explosionen immer wieder unterbrochen worden war, erwachten, sollten wir möglichst schnell zu einem anderen Einsatzort aufbrechen. Doch mein Freund, der nach dem 24. Februar eine Militäruniform angezogen hatte und seitdem in der Einheit seinen Dienst leistete, hielt uns auf: „Wartet mal, ich bereite den Kaffee zu. Gleich!“ Es gab keinen Strom, deswegen schaltete er einen mit Diesel betriebenen Generator ein, schloss die Kaffeemaschine an und goss Wasser hinein. Dann nahm er aus der Kiste, die ich ihm am Vortag mitgebracht hatte, die Kaffee-Packung. „Roasted Uganda“ stand darauf. Er schüttete den Kaffee in die Maschine und schon nach einer Minute roch die morgendliche Mailuft nach Arabica.

Ein Freund des Autors, der als Soldat im Donbas für die Ukraine kämpft

„Ich werde nie auf den Kaffee verzichten! Kein Putin wird das brechen!“

Ich glaube, so wurde die Bibel geschrieben. Als Jesus anfing, Fisch und Brot unter den Menschen zu verteilen, haben diese sich nicht weniger gewundert. Denn tatsächlich war das ein Wunder – in dem schlimmsten Moment an solch einem Ort der Welt, irgendwo bei Slowjansk im Donbas, mitten im Krieg, einen Metallbecher mit ideal zubereitetem Espresso zu bekommen. Wahrscheinlich war das der leckerste Kaffee in meinem Leben. Klingt ja banal, aber was soll man denn sonst behaupten, wenn es tatsächlich so war.

Bemerkend, wie erstaunt wir waren, machte unser treuer Freund eine theatralische Pause und erst dann beantwortete er die Frage, die laut zu stellen niemand gewagt hatte: „Na und? Vielleicht falle ich heute um. Warum soll es der Tag sein, wo ich meinen traditionellen normalen Kaffee nicht getrunken hätte? Lass sie sich alle verpissen! Ich werde nie auf den Kaffee verzichten! Kein Putin wird das brechen! Ich bin daran gewöhnt, morgens guten Espresso zu trinken – also zumindest darauf habe ich das Recht!“

Seitdem bin ich zu den verschiedensten Einsatzorten gefahren, etwa fünfzehnmal – in den Norden, in der Nähe der russischen Grenze bei Charkiw; in den Süden, bei Cherson, in die befreiten Territorien des ukrainischen Schwarzmeerraums. Den Donbas kenne ich überhaupt schon besser als mein heimisches Transkarpatien. Kurz gesagt, ich habe in den letzten Monaten viel erlebt, gesehen und gehört, aber die Aussage meines Freundes ist mir für immer in Erinnerung geblieben.

Andriy Lyubka

„Es geht es um ein grundlegendes Recht des Menschen auf die eigene Individualität, auf sich selbst, darauf ein eigenes Gesicht zu bewahren.“

Weil sich in dieser Aussage etwas viel Wichtigeres als Geopolitik, Kriegsschauplätze und die Schlagzeilen in den Nachrichten widerspiegelt. In ihr geht es um ein grundlegendes Recht des Menschen auf die eigene Individualität, auf sich selbst, ein eigenes Gesicht unter Hunderttausenden anderen Menschen zu bewahren. Das Recht, nicht mit Millionen anderer ukrainischer, das Land verteidigender Soldaten zu verschmelzen. Nicht einer von, sondern einer zu sein. Ein Einzigartiger.

Stellen Sie sich einen Menschen vor, der vor dem 24. Februar absolut zivil, vielleicht auch heimlich pazifistisch eingestellt war, und der nach Beginn der großen Invasion die Uniform eines Soldaten anzog und sich plötzlich an der Frontlinie wiederfand. Auf einmal änderte sich alles in seinem Leben: entrissen aus der Familie und seinem Zuhause, aus seiner Arbeit und seinem Freundeskreis, aus seiner Lebensweise und seinem Recht, eine eigene Zukunft zu planen, eingehüllt in eine Tarnuniform, die dabei hilft, nicht nur mit Millionen anderer Soldaten, sondern auch mit der umgebenden Natur zu verschmelzen, steht der Mensch, auch gut gerüstet, in Wirklichkeit absolut nackt da. Weil nichts mehr davon, was ihn besonders machte, übrig geblieben ist. Es gibt kein eigens Fleisch und kein eigenes Blut – alles dient einem gemeinsamen, allgemeinen Ziel.

Gerade dann beginnt ein Krieg – für das Recht, man selbst zu sein, eigene Vorlieben zu besitzen und mit unglaublicher Mühe eigene routinierte Gewohnheiten beizubehalten. Denn die Lieblingskaffeesorte am Morgen zu trinken, das ist wie nach Hause zu gelangen, wie mit der eigenen Familie seine Zeit zu verbringen, man selbst zu sein. Wenigstens drei Minuten am Tag, die man nicht für globale Ziele, nicht für eine Zahl in der Statistik, sondern nur für sich selbst hat. Es ist ein Krieg – ein unsichtbarer Krieg für die eigene Zeit.

Lesend an der Front

Von Dutzenden Soldaten hörte ich, dass sie während der Militäreinsatze in den Schützengräben und gepanzerten Unterständen lesen, darunter die Bücher, die sie an der Universität bekommen hatten, und auch moderne Bestseller aus dem Bereich Marketing und Geschichte der Business-Imperien. Sie lesen, weil sie sich auf diese Weise ein Gefühl erschaffen, dass diese Tage nicht umsonst vergehen, dass sie sie für ihre eigene Entwicklung nutzen. Weil der Krieg uns alles raubt, unter anderem unsere Zeit, unsere produktivsten Jahre, den Zeitraum, der als „blühende Jugend“ bezeichnet wird. Unwiderruflich raubt. Was bleibt den Zivilisten, die sich zufälligerweise in den Schützengräbern befinden müssen, übrig – wenn nicht die Zeit einzufangen zu versuchen, ein Stückchen davon auch für ihr eigenes Leben abzuzwacken?

Deswegen wird an der Front Deutsch über eine App auf dem Handy gelernt, die Geschichte der Ikea-Gründung gelesen, werden Fahrstunden in der unmittelbaren Nähe des Schlachtfelds genommen: damit die Zeit im Krieg nicht vergeudet, sondern für die eigene Entwicklung genutzt wird. Jawohl, natürlich kann ich nachvollziehen, dass es Selbstbetrug, eine Illusion ist, aber sie hält den Menschen aufrecht.

Vielleicht genau wegen dieses Verständnisses fahre ich zu unseren Soldaten an die Front. Alles fing im April an, als mein Freund – noch gestern Zivilist und jetzt Soldat – mich anrief und im Gespräch verriet, dass seine Einheit am dringendsten ein Auto mit Allradantrieb bräuchte. Es ist eine Tatsache, dass sich seit dem Kriegsbeginn die Größe der ukrainischen Armee versiebenfacht hat, die Menschen wurden mobilgemacht, Uniformen und Waffen wurden verteilt, aber die neu gegründeten Einheiten waren sehr schlecht ausgerüstet. Sie hatten zwar irgendwelche riesigen Lkws und alte Busse, aber kaum mobile und flexible Fahrzeuge.

Mit dem Taxi zur Front

Als Beispiel möchte ich von einer Militäreinheit aus meiner Heimatstadt Uschhorod erzählen. Diese Einheit wurde Anfang März in den Donbas geschickt. Da die Einheit neu, fast nur „auf dem Papier“ zusammengebastelt war, gab es natürlich keine Transportmittel. Die Soldaten bekamen einen alten Schulbus und wurden losgeschickt. Von Uschhorod aus ist es näher bis Venedig als bis in den Donbass. Deswegen war es kein Wunder, dass der uralte gelbe Bus unterwegs kaputtging. Die Soldaten warteten frierend fast den ganzen Tag und die ganze Nacht auf ein Ersatzfahrzeug. Da sich im März das gesamte Land im Chaos befand, kam bei ihnen kein Gefährt an.

Schließlich warfen die Soldaten, die noch vor zwei Wochen Zivilisten gewesen waren, ihr eigenes Geld in einen Topf und fuhren die letzten 200 Kilometer mit dem Taxi. Ein ukrainischer Soldat, der an die Front mit dem Taxi fährt – das ist auch ein Symbol dieses Krieges.

Als ich also im Frühjahr des schrecklichen Jahres 2022 von meinem Freund erfuhr, dass seine Einheit dringend einen Jeep benötigte, hatte ich natürlich den Wunsch zu helfen. Ich überlegte erst einmal, welche Bekannte oder Vereine es gäbe, die das Problem schnell hätten lösen können. Aber dann stellte ich fest, dass niemand das im Nu machen würde. Das hieß: nicht jemanden suchen, sondern selbst handeln.

Am selben Abend schrieb ich auf meinem Facebook-Account, dass ich Geld für einen Jeep für eine Militäreinheit im Donbass sammle, und fügte meine Kontonummer hinzu. Als ich am Morgen aufstand, hatte ich auf dem Konto genügend Geld für zwei Jeeps.

Leserhilfe für Jeeps

So – nicht ganz bewusst – wurde mein Teil der Verantwortung in diesem Krieg deutlich. Seit dem April 2022 bin ich kein Schriftsteller mehr, weil ich fast gar nichts mehr schreibe. Stattdessen sammle ich Geld und kaufe damit Autos für die ukrainische Armee. Mit einem Team lassen wir die Fahrzeuge reparieren, in Tarnfarben streichen und fahren sie dann eigenhändig an die Front. Bis heute habe ich 92 Autos für ukrainische Streitkräfte gekauft und 15 solcher Fahrten zu den Militäreinheiten in verschiedenen Orten unternommen. All dies ist dank meiner Leser möglich geworden. Deshalb Dank denen, die früher meine Texte gelesen und Buchvorstellungen besucht haben und nun meine ehrenamtliche Tätigkeit finanziell unterstützen.

Es ist eine besondere Anerkennung für einen Schriftsteller zu sehen, wie seine Leser ihm im wahren Leben vertrauen, zu verstehen, dass die früher geschriebenen Bücher eine unsichtbare aber zuverlässige Gemeinschaft kreiert haben. Ein Schriftsteller, der nichts schreibt, ist vielleicht auch ein Symbol dieses Krieges. Manchmal mache ich Witze, dass meine Leser deshalb so aktiv für den Erwerb von Autos spenden, damit ich dabei bleibe, nichts mehr zu schreiben.

Obwohl es tatsächlich viel gibt, worüber zu ­schreiben sich lohnen würde. Wenn wir in einer Kolonne in Richtung Osten fahren und so eine Fahrt gewöhnlich anderthalb Tage nur für die Hinfahrt dauert, habe ich viel Zeit zum Nachdenken und Träumen. In so einem Moment stelle ich mir mein erstes Nachkriegsbuch vor. Es wird von allem in der Welt handeln, aber nicht von Automobilen.

Nie wieder Auto fahren

Nach dem Krieg werde ich mir überhaupt ein Fahrrad kaufen und nicht einmal Richtung Lenkrad schauen. Ich habe echt die Nase voll von Autos. Und ich werde viel schreiben, um die erzwungene Kriegspause nachzuholen. Ich werde über Menschen und Menschliches schreiben, von Situationen und Stimmen erzählen. Über den Krieg als Privaterfahrung und nicht über ein geopolitisches Durcheinander. Ich werde schreiben, wie beängstigend es war, zum ersten Mal aus dem friedlichen Uschhorod in den frontnahen Donbass zu fahren.

Aber als ich mein Ziel erreichte, stellte ich fest, dass es dort – in der Nähe des Krieges – keine Angst gibt, weil Angst ein innerlicher und kein geopolitischer Begriff ist.

Ich werde über einen Fahrer aus unserem Team schreiben, der uns während einer Pause in Slowjansk belegte Brötchen zubereitete und sich beim Öffnen einer Konserve an der Hand verletzte. In 50 Jahren, wenn seine Enkel ihn fragen werden „Opa, was hast du im Krieg gemacht?“, wird er ihnen die Wahrheit erzählen können: „Viel verraten kann ich nicht, Das Einzige, was ich sagen kann – ich habe mein Blut in Slowjansk vergossen.“

Über ein einziges Thema werde ich nicht ­schreiben wollen – über ein Gespräch mit einem Soldaten, der für einen kurzen Urlaub nach Hause gekommen war, zu viel Wein trank und mir beichtete: „Weißt du, ich will nur eines, und zwar Artilleriekrieg. Die meiste Zeit sitzen wir in den Schützengräbern und beten, dass uns keine Bombe trifft. Ich bin schon seit neun Monaten im Krieg und habe noch keinen Russen im Visier gesehen. Deswegen habe ich Angst, dass eine Bombe fällt und ich daran zugrunde gehe. Ich bin bereit zu sterben, ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich habe Angst vor dem Tod, verursacht durch eine Bombe im Schlaf, während des Mittagessens, am Tisch oder – schreckliche Vorstellung – auf dem Klo. Eine Bombe wählt doch den Ort nicht aus. Ich bin in den Krieg gezogen und habe die Wahrscheinlichkeit des Todes akzeptiert. Ich bitte nur darum: Lass mich von einem Menschen getötet werden und nicht von einer Bombe, lass mich meinen Feind mit meinen eigenen Augen sehen. Schenke mir, lieber Gott, diese letzte Gnade – von einem Menschen getötet zu werden. Bitte ich zu viel?“

Aus dem Ukrainischen von Antonia Stryapko

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