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Krieg im GazastreifenIsraelische NGOs werfen Israel Genozid vor

Die Nichtregierungsorganisationen B'tselem und Physicians for Human Rights Israel bezichtigen ihre eigene Regierung des Völkermords. Sie fordern Haltung von der internationalem Gemeinschaft.

Ak­ti­vis­t:in­nen protestieren vor dem US-Konsulat in Jerusalem am 11. Juli Foto: Mostafa Alkharouf/Anadolu Agency/imago

Jerusalem taz | Das hat es in der fast zweijährigen Geschichte des Krieges im Gazastreifen noch nie gegeben: Zum ersten Mal werfen israelische Menschenrechtsorganisationen ihrem eigenen Staat vor, dass sein Vorgehen in dem Küstenstreifen die Voraussetzungen eines Genozids erfülle. „Wir leben in einer dunklen Zeit und es ist besonders wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen“, sagt die Ärztin Daphna Shochat von der Nichregierungsorganisation Physician for Human Rights Israel (PHRI) dazu bei einer Pressekonferenz in Ostjerusalem. Zwei Jahre lang haben PHRI und die Menschenrechtsorganisation B’teselem dazu Daten, Berichte sowie Augenzeugenaussagen gesammelt und ausgewertet.

In dem von PHRI vobereitenen Bericht, schreibt die Organisation unter anderem von jungen Geschwistern, die amputiert und verwaist in einem belagerten Krankenhaus ausharren müssten. Von medizinischem Personal, das ohne Anklage in trostlosen Gefängnissen gefoltert werde – und das teils nicht überlebe. Von Operationen ohne Betäubung und ohne Skalpelle, von hungernden Mütter, die ihre Babys frühzeitig zur Welt brächten. Über die methodische Zerstörung des Gesundheitswesens eines Volkes.

„Gazas Gesundheitssystem ist systematisch zerlegt worden – seine Krankenhäuser unbrauchbar gemacht, medizinische Evakuierungen verhindert und Grunddienste wie Traumatologie, Chirurgie, Dialyse und Geburtshilfe vernichtet“, steht in dem 43-seitigen Dokument. Die Tötung und Festnahme von mehr als 1.800 Medizinern hätten die medizinischen Kapazitäten dezimiert und einen Wiederaufbau fast unmöglich gemacht.

Laut dem Hamas-geführten Gesundheitsministerium sind seit Beginn des Krieges mindestens 1.581 Menschen im Gesundheitswesen getötet worden. Laut Daten der Weltgesundheitsorganisation blieben im Mai lediglich 19 von 36 Kliniken im Teil-Betrieb. Dabei werden sie dringend benötigt: Mindestens 55.000 Menschen seien seit Beginn des Kriegs gestorben, sagt das palästinensische Gesundheitsministerium. Fast die Hälfte davon sind nach Berechnung der taz Frauen und Kinder. Weitere 118.000 wurden verletzt. Hinzu kommen die „indirekten Todesfälle“: etwa Menschen, die durch Mangel an Nahrungsmitteln oder Medikamenten gestorben sind.

Neun von zehn Menschen in Gaza wurden vertrieben

Den Vorwurf des Genozids beziehen PHRI und Bt'selem Israel nicht nur auf das Gesundheitswesen. Sondern auch auf den Vorwurf der Zerstörung von Lebensgrundlagen, Hinderung von humanitärer Hilfe, Massenvertreibung, Auswirkungen auf die kommenden Generationen, sowie öffentlich getätigter Aussagen von israelischen Politiker*innen.

Neun von zehn Be­woh­ne­r*in­nen Gazas seien bereits im Januar zumindest einmal aus ihren Häusern vertrieben worden, 92 Prozent aller Wohnhäuser seien beschädigt oder zerstört, 40.000 Kinder hätten mindestens einen Elternteil verloren, psychische Probleme gingen durch die Decke. Schulen seien nicht mehr funktionsfähig, 95 Prozent des Viehs getötet und 80 Prozent aller Bäume vernichtet worden. Die Hilfsblockade durch die israelische Regierung und die Massentötungen von Hilfesuchenden reihten sich ein. 97 Male sei das zum humanitäres Gebiet erklärte Al-Mawasi bombardiert worden, schreibt B’teselem. Menschen seien dort ihren Zelten lebendig verbrannt.

Beide Organisationen kommen zu der Schlussfolgerung, dass das keine Kollateralschäden sind. Sondern Teil einer gezielten Strategie. Die dazu diene, Gaza für die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen unbewohnbar zu machen und die dortige Gesellschaft zu zerstören. „Kein Strom, kein Wasser, keine Nahrungsmittel, kein Treibstoff“, sagte etwa der damalige Verteidigungsminister Joaw Gallant zu Beginn des Krieges zur Belagerung von Gaza. „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere.“

Sie wirft Israel einen Genozid vor: Daphna Shochat von Physicians for Human Rights Israel bei der Pressekonferenz in Ostjerusalem Foto: Serena Bilanceri

Premierminister Benjamin Netanjahu sprach von „Amalek“, einem Volk in der Bibel, das die Jü­d*in­nen attackiert hatte und vollständig ausradiert werden sollte. Rechtsextreme Po­li­ti­ke­r*in­nen wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir riefen mehrfach zur Zerstörung Gazas, Massenvertreibung beziehungsweise Annektion auf.

„Israel begeht einen Völkermord an den Palästinensern“

Laut B’teselem sei das Massaker in Südisrael, begangen von Kämpfern der Hamas und anderer Milizen, am 7. Oktober 2023 der „Trigger für den Genozid“. Etwa 1.200 Israelis wurden damals getötet, mehr als zwei Drittel von ihnen Zivilist*innen. Außerdem wurden etwa 250 Menschen in den Gazastreifen verschleppt. Ein Verbrechen, das die Israelis in Shock und Existenzangst versetzte und den aktuellen Krieg gegen die Hamas auslöste. Der Angriff habe die israelische Gesellschaft verändert – und so einen Wandel in der Politik gegenüber den Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen ermöglicht, schreibt B'teselem: von Unterdrückung und Kontrolle hin zur Zerstörung und Vernichtung.

„Israel begeht gerade einen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen, das ist der Schluss unserer Untersuchung. Zusammen mit einer ernsten Sorge, dass dies auf andere Gebiete ausgeweitet werden könnte, in denen Palästinenser unter israelischer Verwaltung leben“, sagt Sarit Michaeli von B’teselem in Bezug auf das Westjordanland.

Der Vorwurf der beiden Organisationen dürfte hohe Wellen schlagen: Die israelische Regierung hat den Vowurf des Völkermords, der etwa aus Südafrika kam, stets bestritten. Das israelische Militär betonte immer wieder, die Hamas nutze Schulen und Krankenhäuser als Tarnung. Auch die Anschuldigung eines gezielten Aushungerns der Bevölkerung weisen die Streitkräfte ab. Es gebe keinen Hungerstod in Gaza, Hamas plündere die Hilfslieferungen, betonte etwa Premier Netanjahu immer wieder.

Nahost-Konflikt

Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.

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Gegen Netanjahu gibt es einen Internationalen Haftbefehl

Nach starken internationalen Protesten hat die israelische Regierung am Sonntag zeitlich beschränkten humanitären Feuerpausen in einigen Gebieten Gazas zugestimmt und zugesagt, sichere Korridoren für Hilfsgütertransporte zu öffnen. So sollen wieder mehr Güter die Palästinenser im Gazastreifen erreichen. Die Lieferungen, auch kommerzieller Güter, hatte Israel Anfang März ausgesetzt, Mitte Mai dann wieder erlaubt, doch in viel zu geringem Umfang. Die umstrittenen Airdrops, bei denen Hilfsgüter aus der Luft abgeworfen werden, haben nun ebenfalls wieder begonnen.

Es werden wieder Hilfsgüter abgeworfen. Am 28. Juli aufgenommen in Gaza-Stadt Foto: Jehad Alshrafi/ap

B’teselem und PHRI fordern nun, dass sich die internationale Gemeinschaft engagiert: Sie habe „eine moralische und legale Verantwortung, so etwas zu stoppen. Und sie haben bislang versagt“, sagt Michaeli. Auch von der israelischen Gesellschaft fordere sie Handlung.

Im vergangenen Jahr hat der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen Premier Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen. Eine Klage von Südafrika gegen Israel wegen mutmaßlichen Völkermordes in Gaza ist beim Internationalen Gerichtshof anhängig. Das Gericht hat die Plausibilität der Vorwürfe akzeptiert und Gegenmaßnahmen von Israel gefordert. Das Verfahren läuft weiter.

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