Kreaturen, die die Welt nicht braucht: "Artenvielfalt ist Billionen Dollar wert"
Tiere und Pflanzen haben auch einen volkswirtschaftlichen Nutzen. Selbst wenn tausende Arten in einem Wald leben: Verschwinden sollte keine einzige. Denn viele sind auch eine Reserve für die Zukunft
taz: Herr Leuschner, was haben Läuse, Zecken oder Egel auf der Welt zu suchen?
Christoph Leuschner: Die Evolution hat im Laufe von Milliarden Jahren nicht nur Tiere hervor gebracht, die dem Menschen nützen. Es gibt auch solche, die den Menschen als Ressource nutzen - und aus unserer Sicht verzichtbar sind.
Aber wir bekommen sie nicht in den Griff. Sind Parasiten raffinierter als der Mensch?
Die Evolution ist einfach schneller als der Mensch. Kaum denken wir, dass wir ein Medikament gegen ein gefährliches Virus gefunden haben, ist es schon wieder mutiert - und resistent.
Hat der Mensch mehr Feinde oder Freunde unter den Arten?
Lebensgefährlich bedrohen uns vielleicht zwanzig Arten. Schätzungsweise gibt es aber zehn bis dreißig Millionen Arten von Tieren, Pflanzen und Bakterien. Sie sind nicht nur schön wie der Kranich oder der Tiger. Wir brauchen sie.
Wofür?
Wälder und Moore regulieren zum Beispiel das Klima, weil sie das Treibhausgas Kohlendioxid binden. Insekten und Bakterien entmüllen Äcker. Denn sie helfen dabei, Pflanzenreste in nährstoffreichen Boden zu verwandeln. Sie machen das in Teamarbeit, mit vielen Organismen zusammen. Ob 40 oder nur 20 Arten in der Ackerkrume leben, macht viel aus.
In einem Buchenwald leben rund 2.000 Tierarten. Da darf eine verschwinden?
Wahrscheinlich würden 1.500 Arten dieselben Leistungen erbringen wie 2.000. Wissenschaftlich ist aber belegt, dass die Arten, die heute unbedeutend erscheinen, eine Reserve für die Zukunft sind. Sie könnten nämlich einspringen, wenn die Erde zum Beispiel um zwei Grad Celsius wärmer wird - und andere Arten schlappmachen.
Die Natur ist auf den Klimawandel schon vorbereitet?
In gewisser Hinsicht - ja. Wälder gibt es schon seit vielen Millionen Jahren. Und in dieser Zeit gab es auch schon mal wärmere Phasen. Nur wandelt sich das Klima derzeit so dramatisch, dass viele Ökosysteme sich trotzdem nicht anpassen können.
Welche Arten in Deutschland sind besonders bedroht?
Alle, die an Kälte angepasst sind, etwa die Brockenanemone, das ist eine Pflanze mit großen weißen Blüten.
Was muss die Politik gegen das Artensterben tun?
Die EU-Kommission hat gesagt, sie wolle den Artenschwund bis 2020 stoppen. Passiert ist bisher zu wenig, da macht Deutschland keine Ausnahme. Viele Bundesländer haben das Geld für den Naturschutz in den letzten fünf Jahren sogar gekürzt. Es reicht nicht, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel nur das Klima international retten will. Sie muss eine ähnliche Initiative für die Biodiversität schaffen.
Die Regierung entwickelt eine nationale Biodiversitätsstrategie. Was muss drin sein?
Bisher stehen nur wenige Prozent der Flächen in Deutschland unter Schutz, es müssten mindestens zehn werden. Mal hier und da eine Wiese zu schützen, reicht nicht. Tiere und Pflanzen müssen wandern können. Sie brauchen große Areale, die nicht von Straßen und Industriegebieten zerschnitten werden. Und: Der Schutz von Pflanzen und Tieren darf nicht gegen den Schutz von Jobs ausgespielt werden.
Umweltminister Sigmar Gabriel sagt, Biodiversität zahle sich wirtschaftlich aus. Gute Argumentation?
Der Artenschutz wurde viel zu lange nur als etwas Museales verstanden - so wie man den Kölner Dom erhalten will. Nur lässt sich der ökonomische Nutzen einzelner Arten nicht exakt berechnen. Grob geschätzt soll ein Blaukehlchen zehn Euro wert sein, weil es etwa Insekten vertilgt. Zweifellos geht der volkswirtschaftliche Wert der Artenvielfalt weltweit in die Billionen von Dollar.
Was macht den Wert aus?
Zwei Beispiele: Seit im Meer vor Neufundland kaum noch ein Dorsch zu fangen ist, mussten sehr viele Fischer ihren Job aufgeben. Und: Jeden Monat stirbt eine alte Nutztierrasse aus. Denn die Landwirte züchten nur noch wenige Rassen für die hochindustrialisierte Lebensmittelproduktion. Das Gleiche gilt für unser Getreide. Erweisen sich diese Zuchtlinien künftig als wehrlos gegen Parasiten, können die Alternativen fehlen.
INTERVIEW HANNA GERSMANN
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