Kranksein in postpandemischen Zeiten: Kein Corona, trotzdem krank
Party? Die Gastgeberin ist krankgeworden. Proben? Die Hälfte des Ensembles fällt aus. Die anderen sind überarbeitet.
I ch mag Menschen. Ich tue manchmal so, als wäre das nicht so, aber das ist plumpe Koketterie. Die Pandemie, wurde entschieden, ist offiziell vorbei und eigentlich freue ich mich darauf, wieder ein Privatleben zu haben und alle wiederzusehen. Nur so ganz klappt das leider nicht. Geburtstagsparty? Verschoben, weil das Geburtstagskind krank ist. Der neue Termin? Passt mir sogar besser, aber als es endlich soweit ist, liege ich auf der Nase. Keine Ahnung, wann mein letzter gewöhnlicher Theaterbesuch war. „Gewöhnlich“ im Sinne von: Man verabredet sich, geht hin, die Vorstellung findet statt und alle angekündigten Schauspieler*innen stehen auf der Bühne.
Karten im Vorverkauf zu holen, lohnt sich kaum, denn die Tickets gehen meistens zurück, weil entweder ich oder meine Begleitung erkranken. So manche Vorstellung wurde von den Theatern abgesagt. Und wenn gespielt wird, dann gehört die freundliche Ansage der Dramaturgie fast standardmäßig zur Aufführung dazu: Wir wünschen uns einen besonders warmen Applaus für Kollegin Müller, die kurzfristig einspringen musste. Die folgende Rolle wird leider eingelesen, da die Schauspielerin krankheitsbedingt ausfällt, leider hat sich der Sänger verkühlt, man möge verzeihen, wenn der ein oder andere Ton nicht ganz sitzt. Vielleicht verabrede ich mich bis in den Sommer lieber zum Kino. Das läuft stabiler.
Es geht im Theater aber nicht nur um Vorstellungen. Seit dem Herbst 2021 habe ich bei meiner eigenen Theaterarbeit keine zuverlässigen Probenabläufe mehr gehabt. Unvergessen ein kühler Morgen in Oberhausen: Ich geh an der Pforte vorbei in den Probenraum. Und da sitze ich dann. Niemand kommt. Zwei Kolleg*innen mit Corona. Eine Kollegin zu Hause mit krankem Kind. Ich gehe einen Kaffee trinken. Der Pförtner ist irritiert über die wohl kürzeste Probe in der Geschichte des Hauses.
Der Theaterbetrieb mit seiner langfristigen Disposition und den starren Deadlines – also Premierenterminen – ist für solche Unzuverlässigkeiten nicht ausgelegt. Hier wird man eigentlich nicht krank. Und wenn doch, dann schleppt man sich irgendwie doch zur Arbeit. Ich dachte, dass das eine der positiven Veränderungen sein wird, die wir aus der Pandemieerfahrung mitnehmen. Dass Leute nur gesund zur Arbeit kommen und auch hier Kranke im Bett bleiben.
Jetzt sehe ich wieder Kolleg*innen, die sich mit letzter Kraft zur Arbeit schleppen, weil die Probenzeit sonst nicht ausreichen würde. Gesundsein ist aktuell eher anstrengend. Es bedeutet, dass man die Arbeit der kranken Kolleg*innen miterledigen muss. Wenn ich genau überlege, habe ich Freizeitaktivitäten in letzter Zeit häufiger wegen Überarbeitung als wegen Krankheit abgesagt. Meine Nase ist zwar verstopft, aber irgendwie riecht das alles nach einem strukturellen Problem. Vielleicht hat ja wer die Energie, sich dem Thema anzunehmen. Ich muss erst mal wieder fit werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste