Krätze in Lüneburg: Der Spiegel der Seele

Die Kratzmilbe verbreitet sich gerade gehäuft im Nordosten Niedersachsens. Warum ist das so? Eine Betrachtung über Krankheiten.

Ein mittelalterlicher Stich, der einen Krätze-Erkrankten zeigt.

„Die Hinfälligkeit des Körpers“, so heißt dieser mittelalterliche Stich von Hans Weiditz eines Krätze-Erkrankten Foto: Hans Weiditz/Wikimedia Commons

Jede Epoche hat ja so ihre eigenen Krankheiten, unser Zeitalter ist das Zeitalter des Sitzens und des Duschens, deshalb sind unsere Füße und Rückenmuskeln verkümmert und unsere Haut dünn wie Seide. Wir haben Kreislauferkrankungen und sterben am Herzinfarkt. Im Mittelalter war die Krätze so normal wie heute Schnupfen, Fußpilz oder Kurzsichtigkeit.

Jeder hatte im Mittelalter ein bisschen die Krätze. Selbst berühmte Persönlichkeiten, denn das ist ja das Schöne an Krankheiten, dass sie darauf keine Rücksicht nehmen. Krankheiten sind die Demokraten unter den Lebenswidrigkeiten, zumindest einige. Napoleon ist ein berühmter Krätze-Patient gewesen, Kratzen soll zu seinen Hauptbeschäftigungen gehört haben. Man sieht ihn auf vielen Bildern mit der Hand unter der Jacke. Das ist vielleicht ein Hinweis.

Es gab das Gerücht, dass die Ursache von Krätze verdorbenes Blut sei. So war das im Mittelalter, da war jeder für seine Krankheiten noch selber verantwortlich. Da waren die Menschen noch gezwungen, sich moralisch zu verhalten, weil sie sonst die Pest kriegten, oder die Krätze, die Auswahl an Krankheiten war im Mittelalter groß.

Und ich frage mich manchmal, warum es immer noch so viele Fans dieser Zeit gibt? Ist denn das Mittelalter wirklich so ein schöner Zeitabschnitt gewesen, mit all seinem Schmutz, der Inquisition und der Pest? Aber nun gut, Menschen lassen sich ja auch zum Spaß in Latex einschweißen oder Klemmen an die Brustwarzen stecken. Menschen sind einfach verschieden und seltsam und man muss sie nicht immer begreifen.

Die Krätze bringt aber kaum jemanden ins Grab. Das besorgt schon eher der Straßenverkehr und der Feinstaub.

Jetzt jedenfalls können sich die Mittelalter-Fans freuen, denn die Krätze ist zurück. Sie können echte Krätze-Patienten in ihre Mittelaltertreffen und Mittelaltermärkte integrieren, sich sogar, wenn sie möchten, selber anstecken und sich öffentlich der Onanie beschuldigen, oder einer anderen Form der Unreinheit.

Verantwortlich für die Krätze ist aber nun, da sind die Wissenschaftler sich einig, nicht das unreine Blut, sondern das kleine Krätzmilbenweibchen, das Kanäle in die Oberhaut der Menschen bohrt, wo es sowohl seinen Kot als auch seine Eier ablegt, und wo dann die kleinen Babykrätzmilbchen schlüpfen.

Die weiblichen Krätzmilben sind die Tätigen, die männlichen Krätzmilben irren nur auf der Hautoberfläche herum und gieren den Weibern nach. So ist das nun mal aufgeteilt. Wäre es nicht so unangenehm, würde man sich vielleicht eine kleine Krätzekolonie auf der Haut züchten, um dem eifrigen Treiben einmal zuzuschauen.

„Die Krätze erreicht Lüneburg“, titelte die LZonline. Aktuelle Zahlen lägen nicht vor, aber es gäbe einen Trend. Aber auch der NDR berichtete: In mehreren Landkreisen im Nordosten Niedersachsens sei die Zahl der Krätze-Erkrankungen stark gestiegen. Dies käme vor allem von den Flüchtlingen. Was natürlich einige freut, die es gerne sehen, dass irgendwas Schlechtes von den Flüchtlingen herkommt, damit sie die Flüchtlinge noch für was anderes ablehnen können als für ihre Herkunft.

Milbenhüllen aus dem Mittelalter

Manche Menschen würden, glaube ich, aus reiner Bosheit sich und ihre ganze Familie mit Krätze anstecken, nur um der Welt beweisen zu können, dass Flüchtlinge die Deutschen ins Grab bringen. Die Krätze bringt aber kaum jemanden ins Grab. Das besorgt schon eher der Straßenverkehr und der Feinstaub.

Lüneburg ist eine sehr alte Stadt mit einem hübschen mittelalterlichen Stadtkern. Die Krätze ist da schon so oft zu Hause gewesen, dass es diesen alten Häusern so vorkommen muss, als wäre sie nie weg gewesen. In manchen Fachwerkritzen liegen vielleicht immer noch ein paar vertrocknete Milbenhüllen aus dem Mittelalter. Was sind schon fünfhundert oder Tausend Jahre?

Jetzt allerdings sind wir aufgeklärt und haben Salben und Ratgeberbücher und, vor allem, Hautärzte. Die Haut ist ein Spiegel der Seele, sagte meine Mutter immer. Aber meine Haut war immer in Ordnung, ich hatte nicht mal in der Pubertät Pickel, aber mit meiner Seele sah es anders aus. So ist es ja mit Weisheiten im Allgemeinen, sie treffen nur da zu, wo sie wirklich zutreffen.

Hat sie einer, haben sie alle

Die Krätze trifft aber ziemlich wahllos auch seelisch vollkommen Gesunde. Die kleinen Milben nehmen, was sie kriegen können. „Krätze, mein Weg aus der Verzweiflung“, heißt ein 2018 erschienenes Ratgeberbuch. Am Aufkommen solcher Ratgeberbücher kann man seismographisch ablesen, was die Gesellschaft bewegt.

In Hamburger Kindergärten soll die Krätze sich auch schon breitgemacht haben, erzählte mir ein Elternteil. In Kindergärten ist das Ausbreiten sicherlich schwer zu verhindern, ähnlich wie das Ausbreiten von Läusen. Hat sie einer, haben sie alle.

Die Kinder liegen ja in Kindergärten übereinander, in Haufen gestapelt, sie kugeln und raufen sich, sie stecken ihre Köpfe über dem Lego zusammen, da können die Krätzmilbchen ganz einfach von Wirt zu Wirt spazieren. Bei Erwachsenen stelle ich mir das weniger einfach vor. Aber, wie mir ein Lüneburger Student erklärte, der selbst unter der Krätze zu leiden hat: Der Student an sich lebe ja in der WG, und da sei es ähnlich wie im Kindergarten, auf die körperliche Nähe bezogen. Da säßen auf einem Sofa für drei auch mal zehn junge Menschen zusammen.

Fünf bis zehn neue Fälle pro Tag

Er selbst hätte es erst gar nicht bemerkt, dass er die Krätze hatte. Dann sei er zum Hautarzt gegangen und der hätte nur gefragt: „Kuwi oder Uwi“? Kuwi – das ist der Studiengang Kulturwissenschaften, und Uwi – so nennt sich wohl der Studiengang Umweltwissenschaft an der Lüneburger Leuphana Universität.

Von dort hatte dieser Lüneburger Hautarzt einen ganzen Haufen Krätzepatienten, und meinen Studenten ja auch. Fünf bis zehn neue Fälle hätte er am Tag, erklärte der Arzt. Breitet sich eine Epidemie aus? Werden dies die Zeiten, wo mittelalterliche Krankheiten und Seuchen unsere Gemeinschaft wieder überschwemmen? Ist es am Ende eine göttliche Strafe, weil wir nur noch dem Konsum huldigen? Man weiß es nicht. Die göttliche Strafenzeit ist ja eigentlich vorbei.

Was unternimmt man, wenn man die Krätze hat? Das ist wohl eine der interessantesten Fragen, wenn man betroffen ist. Den Rest interessiert es nur am Rande, ähnlich wie es kaum jemanden interessiert, wie man Nagelpilz behandelt, bis man ihn einmal selber hat. Da gibt es Foren, da kann man stundenlang stöbern und diskutieren. Da geht es ins Detail, mit prächtigen Makroaufnahmen von Zehennägeln, und in so einer Gemeinschaft fühlen sich die Menschen verstanden und geben einfach nicht auf.

Waschen, was das Zeug hält

Ich weiß das, denn ich habe jahrelang in solchen Foren gestöbert und bin dann selbst auf ein Mittel gekommen, dass ich hier, auch wenn es beitragsfremd ist, gerne preisgebe: Essigessenz. Damit kann man nicht nur Toiletten säubern.

Ich würde, glaube ich, wenn ich die Krätze hätte, es glatt auch einmal mit Essigessenz versuchen. Sollten die Salben nicht helfen, die der Hautarzt verschreibt. Ich denke, auch für die Krätze wird es bald Foren geben. „Die Krätzis“ vielleicht? Oder: „Kratz dich gesund“.

Das scheint nämlich ein Problem zu sein, dass man die Krätze nicht so leicht los wird, wie die Mittel versprechen. Und dann ist es mit der Salbe ja nicht getan. Man muss täglich die Bettwäsche wechseln, die Kleidung, man muss waschen was das Zeug hält. Das hat mir der junge Student erzählt. So was erschwert doch das studentische Leben ungemein.

Einfach Liegenlassen

Als ich Student war, habe ich meine Bettwäsche ungefähr einmal im Jahr gewechselt. So ist diese Krankheit am Ende auch nicht umweltfreundlich. Es wird ja sehr viel Wasser dabei verbraucht. Die Kleidung muss aber nicht unbedingt gewaschen werden, habe ich mir sagen lassen, die Kleidung kann auch in Plastiktüten verpackt ein paar Tage liegen, denn anders als Bettwanzen, die eine Freundin im letzten Sommer aus einem Urlaub mitgebracht hatte, und die fast überhaupt nie sterben, überleben die Krätzmilben nicht so lange ohne Menschen.

Dieses Liegenlassen scheint mir eine angenehme Alternative. Aber psychisch ist das Waschen sicherlich besser. Überhaupt ist die Krätze eine Krankheit, die man auch aus Gründen der Stigmatisierung nicht sehr gern an sich hat. Dies Gekratze geht ja auch mit dem Ruf der Unsauberkeit einher. Und dies, obwohl die Krätzmilben auch auf saubere Menschen klettern. Sie ziehen mitnichten die schmutzigen vor.

Aber es gibt ja immer noch die auch bei jungen Menschen beliebte Redewendung: „Ich krieg die Krätze.“ Wenn man zum Beispiel einen ungeliebten Menschen trifft oder sehr lange in der Telefonhotline ausharren muss. Und dann konnte man früher auch noch jemandem „die Krätze an den Hals wünschen“. Das habe ich schon länger nicht mehr gehört, aber das wird sicherlich wiederkommen.

Warum ausgerechnet Lüneburg?

Warum nun in Lüneburg ausgerechnet die Studenten dieser zwei Studienrichtungen besonders von der Krätze befallen sind, das konnte ich nicht herausfinden. Ein anderer mir bekannter junger Mann mutmaßte, dass einige Studierende der Umweltwissenschaften sich viel im Wald aufgehalten hätten. Er selbst ist anscheinend noch mal davon gekommen, denn er hat sich ja auch dort aufgehalten, im Wald. Im Wald ist das tägliche Bettwäschewaschen nicht so ganz einfach, insbesondere wenn die Bettwäsche ein Schlafsack ist. Daran kann man sehen, dass es unter Umständen doch besser ist, in Wohnungen mit Waschmaschinen zu leben.

Am Ende, möchte ich sagen, sind Krätzmilben auch nur Tiere und nicht so tödlich wie Feinstaub und Straßenverkehr. Vielleicht sollten wir ihnen sogar ein wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie tun nur ihr Tagewerk, zerstören bloß ein bisschen Haut und nicht den Planeten wie wir.

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