Kooperativen in Ecuador: Das Wunder von Salinas

In den Hochanden stellen Bauern in einer Genossenschaft Käse her – nach Schweizer Rezept. Die Geschichte eines unverhofften Erfolgs.

Ein Esel steht in einem Gebirge herum. Im Hintergrund Gebäude

Die Milch wird von den Bauern oft per Esel angeliefert, im Hintergrund die Käserei von Salinas Foto: Johannes Süßmann

SALINAS taz | Maria Vargas treibt mit einem Zweig ihren mit einer Plastikkanne bepackten Esel an. Sie trägt die traditionelle Kleidung der Indigenen in den Anden, brauner Hut, bunter Rock, farbige Jacke. Eine Stunde braucht sie von ihrem Haus bis zur Käserei in Salinas. Heute hat sie nur acht Liter Milch dabei – eine ihrer drei Kühe gibt derzeit keine Milch. 3,50 Dollar bekommt sie dafür. „Ich mache das schon mein halbes Leben“, sagt sie.

Hundert Bauern kommen jeden Morgen zu der modernen Käserei, die meisten mit Eseln und wenig Milch, manche mit kleinen Lieferwagen und hundert Litern. Die Kooperative in Salinas zahlt den Bauern 44 Cent pro Liter, ein Drittel mehr als andere Käsereien in Ecuador. Der Preis ist fest. So schützt die Kooperative die Kleinbauern vor den Schwankungen des Marktes. „Die Milch, das ist Arbeit für uns alle“, sagt Maria Vargas.

Salinas ist eine propere florierende Kleinstadt in der Provinz Bolívar, mehr als 3.500 Meter hoch in den Anden gelegen. Die Käserei verarbeitet täglich bis zu 10.000 Liter Milch zu Frisch- und Hartkäse. Daneben gibt es eine Spinnerei und eine kleine Schokoladenfabrik. Und ein Hotel. All das gehört zur Kooperative Salinerito. Neuerdings haben im Ort ein paar Pizzerien aufgemacht, ein zartes Aufkeimen von Tourismus in diesem abgelegenen Ort, wo Jugendliche abends vor der Kirche Volleyball spielen.

Ein paar Tausend Menschen leben in der Region inzwischen von der Genossenschaft Salinerito – Kleinbauern, Käseproduzenten, Weber, Angestellte dieser Firmen. Die Kooperative betreibt zudem ein halbes Dutzend eigene Ökoläden in der Hauptstadt Quito. Salinerito ist eine Marke geworden. Ihren Qualitätskäse, in Ecuador Mangelware, und die Schokolade vertreibt die Genossenschaft auch in Supermärkten im ganzen Land.

Kein Paternalismus

Padre Antonio sitzt am Holztisch seiner Wohnküche in Salinas und isst Ravioli mit Tomatensoße. Durch das Fenster fällt der Blick auf Tannen, schroffe grüne Hänge, weidende Kühe. Der Padre hat weiße Haare, einen weißen Bart, ein kantiges Gesicht, wache Augen. Und nicht viel Zeit. Ja, ein Interview, gerne, aber nur beim Mittagessen. Er kommt gerade von einem Vortrag vor Gemeindevertretern in der Provinzhauptstadt und muss noch zu einer Bauernversammlung. Antonio Polo ist Priester in Salinas. Und mehr.

An der mit Bildern übersäten Holzwand seiner Wohnküche hängt ein großes Foto, das in verblichenen Farben Salinas in den 1960er Jahren zeigt. Eine Ansammlung ärmlicher, strohgedeckter Hütten. Die Kindersterblichkeit lag bei fast 50 Prozent, der Analphabetismus bei fast 90. Kein Strom, kein fließendes Wasser, keine Straße, die den Ort mit der Welt verband. Seit Generationen regierten Großgrundbesitzer. Indigene und Mestizen schufteten in der örtlichen Salzmine. Wer nicht spurte, riskierte, von den Besitzern verprügelt oder gar totgeschlagen zu werden. Feudale Verhältnisse. Niemand konnte sich vorstellen, dass es anders sein könnte.

Im Jahr 1971 gelangten Antonio Polo, ein gebürtiger Venezianer, und sein Freund Bepi Tonello nach Salinas. Sie hatten nicht viel – außer Enthusiasmus und die linkskatholische Überzeugung, dass soziale Befreiung nottut. Und dass diese nicht durch Gewehre, sondern mithilfe von Genossenschaften erkämpft werden kann.

Ein Mann steht vor einem Haus

Das historische Gedächtnis des Ortes: Samuel Ramirez, der Dorfälteste Foto: Stefan Reinecke

„Die Großgrundbesitzer“, erinnert sich Samuel Ramirez, „haben Polo und Tonello damals als Betrüger und Kommunisten beschimpft.“ Ramirez ist 75 Jahre alt, hat sein Leben in Salinas verbracht und ist so etwas wie das historische Gedächtnis des Ortes. Überzeugt hat Samuel Ramirez damals, dass die Ausländer, die nur radebrechend Spanisch sprachen, sich nicht zu schade waren, auch tagelang Steine zu schleppen, um eine Schule zu bauen. Polo und Tonello kauften, unterstützt vom örtlichen Bischof und mit Krediten von Hilfsorganisationen, Land und gründeten die Kooperative.

Der Beginn war schwierig. Vor allem die Indigenen waren skeptisch. „Die Ärmsten waren die Letzten, die der Genossenschaft beitraten. Denn sie brauchten die fünf Cent, die sie für die Arbeit in der Salzmine am Tag bekamen. Wir dachten, es geht um Freiheit von den Grundbesitzern. Doch für die Armen war Essen das Wichtigste“, sagt Bepi Tonello, der inzwischen in Quito bei der FEPP, einer Organisation für Entwicklungshilfe, arbeitet.

Ein Schweizer Käser half aus

Im Jahr 2017 ist Salinerito eine Erfolgsgeschichte. Die Käserei war die Erste, die von einer Kooperative betrieben wurde; heute gibt es in ganz Ecuador mehr als hundert Käsereien in genossenschaftlichem Besitz. Derzeit muss Salinerito noch Kredite in Höhe von einer Million Dollar begleichen. Doch das ist für einen Betrieb dieser Größe nichts Ungewöhnliches.

Der wirtschaftliche Aufstieg gelang durch persönliche Initiative und mit Unterstützung von außen: Geld und Know-how. Der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) schickte Förster und Tierärzte, Brot für die Welt, Welthungerhilfe und andere Organisationen halfen mit Krediten. Der Schweizer Sepp Dubach brachte den Indigenen bei, wie man Käse herstellt. Sein Porträt hängt noch immer in manchen Häusern in Salinas. Es gab in den letzten vierzig Jahren kaum einen Monat, in dem nicht Entwicklungshelfer oder Freiwillige aushalfen.

Es gibt viele solche Projekte in armen Regionen der Welt, aber sie krepeln vor sich hin oder scheitern gar. Was ist in Salinas anders?

Bepi Tonello glaubt, dass der dauerhafte Erfolg mit dem Verzicht auf Paternalismus zu tun hat. „Die Armen zu beschenken, ist falsch“, sagt er. „Wir haben den Leuten in Salinas viel zugemutet – mit unserer europäischen Disziplin und unseren Forderungen. Manchmal sagten sie dann: Lasst uns in Ruhe mit euren Projekten. Aber wir haben die Mentalität der Leute hier immer geachtet. Das war entscheidend.“ Fordern und anerkennen gewissermaßen.

Sein Freund, der Padre, sieht in der komplexen Produktion einen Grund für den Erfolg. „Wenn ich Rohmilch verkaufe, kann ich keinen Käse mehr machen. Wenn ich Früchte verkaufe, keine Marmelade. Wenn ich ein Schwein verkaufe, kein Fleisch.“ Nur wer Rohstoffe verarbeitet, schafft Wertschöpfungsketten.

Das klingt simpel. Aber das ist es nicht. Zu vermarkten, was man produziert, erfordert Planung, Flexibilität, Verwaltung, ein verlässliches Netz von Zwischenhändlern. Und Verlässlichkeit. Manches ging in Salinas schief. Die Spinnerei, das Geschäft mit der Wolle von Schafen und Alpakas, war zehn Jahre lang defizitär. Maschine kaputt, Qualität mies, falsche Kostenkalkulation. Erst seit 2015 macht sie Gewinn.

Allmähliche Professionalisierung

Salinerito besteht aus vielen kleinen Genossenschaften. Die Käsereien in den verschiedenen Orten produzieren und vermarkten ihre Produkte selbst. Manche erfolgreich, andere weniger. Die Genossenschaft hat sich, wie viele Alternativbetriebe in Europa, professionalisiert. Auch heute entscheidet die Basis über Wichtiges, aber die Treffen fallen kürzer aus. Es existiert ein organisatorisches Geflecht, das die Interessen der verschiedenen Einzelkooperativen ausbalanciert. Die Gehälter sind sachte differenziert. Niemand bekommt weniger als den Mindestlohn von 380 Dollar im Monat, die Chefs erhalten um die tausend Dollar.

„Unser System hier kann nicht hundertprozentig solidarisch sein. Wir leben in einer globalisierten Welt. Aber die Produktionsmittel gehören immerhin der Gemeinschaft“, sagt Padre Antonio.

Und die Zukunft? Der Padre hofft auf Tourismus in Salinas. Viele wollen nicht nur die Schönheit der Anden oder den nahe gelegenen Chimborazo, den höchsten Berg Ecuadors, bestaunen, sondern auch das wundersame Gedeihen des Projekts Salinerito verstehen. „Die Leute hier sehen sich auch mit den Augen der Besucher und vergessen deshalb nicht, dass dies hier etwas Besonderes ist“, sagt Padre Antonio.

Es gibt Ungewissheiten. Niemand in Salinas vermag zu sagen, wie es ohne den 77-jährigen Padre, Herz und Kopf des Projekts, weitergehen wird. Außerdem gilt seit dem 1. Januar das Freihandelsabkommen zwischen Ecuador und der EU. Im Nachbarland Kolumbien hat der liberalisierte Handel mit den USA und der EU Tausende Kleinbauern ruiniert. In dem Deal Ecuadors mit der EU sind zwar lange Übergangsfristen für Käse vereinbart. Doch ob der Salinerito-Käse danach gegen Goudabilligimporte bestehen wird? Schon jetzt kann die EU 1.500 Tonnen Milch jährlich zollfrei nach Ecuador exportieren. Das wird den Milchmarkt in Ecuador verändern und womöglich gefährden, dass Kleinbauern wie Maria Vargas weiterhin 44 Cent für den Liter Milch bekommen.

Der Padre und Beppe Tonello sind optimistisch. Salinerito ist als Marke fest etabliert und in der Ökonische einigermaßen geschützt. Und wenn nicht? Wenn Europa zerstört, was es in Salinas mit erschaffen hat? Das wäre eine teuflische Wendung.

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