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Kontaktverweigerung

■ Grüezi — bonjour — buon giorno — allegra

Ei! Was wimmelt da für verschiedenes Volk im engen Raume“, freute sich einst der Schweizer Nationalschriftsteller Gottfried Keller über seine Mitbürger, „und alles ist gut und herrlich und ans Herz gewachsen“. Hundert Jahre später hielt sein Zunftkollege Friedrich Dürrenmatt das friedliche Zusammenleben der Eidgenossen, die mit vier verschiedenen Zungen sprechen, hingegen für ein „ungeheures Gerücht“. Die Zeitgeschichte scheint dem jüngst verstorbenen Schweizer Dramatiker recht zu geben. Zwar hat der helvetische Sprachenstreit noch keine belgischen Ausmaße angenommen. Doch verbreitert sich der Graben zwischen den beiden größten Sprachgruppen des Landes.

Schuld an den inzwischen unüberhörbaren Dissonanzen ist ein Revival des Dialekts in der deutschen Schweiz. Im familiären Bereich wurde schon immer ausschließlich das Schwyzerdütsch gesprochen, doch in den letzten zwei Dekaden haben sich die Zürcher, Basler und Berner Mundarten weiterer Teile des öffentlichen Lebens bemächtigt. Die Kehllaute, über die sich Ausländer so oft mokieren, zu deren Nachahmung sie aber so selten fähig sind, sprudeln heute von Kanzeln und Kathedern, ja selbst Minister reden im Fernsehen zum Volk gerade so, wie ihnen nun mal der Schnabel gewachsen ist. Soziologen vermuten hinter dem Rückgriff auf den Dialekt das Bedürfnis nach überschaubaren Räumen, die Sehnsucht nach sicheren Gefilden, den Drang nach Flucht aus einer übernormierten Massengesellschaft — und auch das Bemühen um Abgrenzung vom großen ungeliebten Bruder im Norden.

Die Romands, wie sich die etwa 20 Prozent französischsprachiger Schweizer selbst nennen, interpretieren den zunehmenden Gebrauch des alemannischen Dialekts im öffentlichen Leben hingegen immer häufiger als Kontaktverweigerung und reagieren mit Frust und Trotz: Wenn sich die Deutschschweizer nicht bemühen deutsch zu sprechen, könne man sich ja — why not? — gleich auf englisch unterhalten. Die Umgangssprache der Schweizer von morgen, so stellte denn jüngst auch eine von der Regierung mit der Klärung der Sprachfrage beauftragte Kommission mit Grausen fest, könnte Englisch sein. So what? Thomas Schmid

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