Konservative in Großbritannien: Donnergrollen in Downing Street
Kaum ist die Pandemie eingedämmt, fliegen in London die Fetzen. Im Zentrum: Premier Johnson und sein Ex-Vertrauter Cummings.
Woher könnte die größte britische Tageszeitung, der konservative Daily Mail, dieses angebliche Zitat erfahren haben, das Johnson als „völligen Blödsinn“ dementiert? Es soll am Abend des 30. Oktober 2020 gefallen sein, als der britische Coronakrisenstab einen zweiten Lockdown beriet, um die Fehler des Frühjahrs nicht zu wiederholen, als Großbritannien zu spät reagiert hatte. Alle waren für einen neuen Lockdown – außer Johnson. Aber er war isoliert und fügte sich. Am nächsten Tag steckte jemand den Beschluss den Medien, und Johnson musste ihn vorziehen. Eine peinliche Blöße.
Wer die „Ratte“ war, die aus dem Krisenstab plauderte, ist nicht bekannt – eine Untersuchung unter dem Titel „Chatty rat“ läuft. Anwesend waren neben Johnson drei Minister, zwei Wissenschaftler und Johnsons Chefberater Dominic Cummings. Zwei Wochen später war Cummings seinen Job los.
Cummings war überzeugt, dass Johnsons 33-jährige Lebensgefährtin Carrie Symonds ihn hinausgeekelt hatte. Symonds, die 2018 als Jungstar der Presseabteilung der Konservativen in Johnsons Leben stieß, steht für eine familienorientierte, ökologische Politik und mehr Versöhnlichkeit als die Scharfmacher rund um Cummings, das einstige Hirn der „Vote Leave“-Kampagne vom Brexit-Referendum 2016.
Berüchtigt und dreist
Als Johnson 2019 Premierminister wurde, rückte der für seine schräge Genialität berüchtigte Cummings zum mächtigen Strippenzieher auf. Er setzte auf Englands Abgehängte und steuerte damit die Konservativen im Dezember 2019 zum größten Wahlsieg seit 32 Jahren. Danach bastelte er an einem quasipräsidialen Schaltzentrum, in dem ihm alle Ministerialberater persönlich unterstehen und der Beamtenapparat nichts zu sagen haben sollte. Aber mitten im ersten Coronalockdown zu Ostern 2020 brach er dreist die Regeln und seine Zeit war vorbei.
Seit Cummings’ Abgang im November 2020 hat sich das öffentliche Bild der Regierung Johnson gewandelt. Sie agiert überlegt statt erratisch, die Kombination von Entschlossenheit beim Impfen und Übervorsicht beim Lockern funktioniert. Aber gerade die Überwindung der Pandemie lenkt den Blick der britischen Politik wieder auf andere Probleme. Der Zusammenbruch der Greensill-Bank wegen fauler Kredite im März hat in Großbritannien politische Schockwellen hervorgerufen, die als Erstes den gemeinsamen Hauptgegner von Johnson und Cummings trafen: den ehemaligen konservativen Premierminister David Cameron.
Jahrelang hatte sich die britische Öffentlichkeit gefragt, was Cameron seit seinem Rücktritt nach dem Brexit-Referendum 2016 eigentlich macht. Jetzt weiß man: Er war als Lobbyist für Greensill tätig. Schon als er noch Premierminister war, hielt er sich Bankchef Lex Greensill als Berater. Ausgerechnet über die höchsten Spitzenbeamten warb dieser dafür, Zahlungen aus dem Staatshaushalt über seine Bank auf Vorkasse abzuwickeln. Am Ende war sogar der oberste Beschaffungsleiter der Cameron-Regierung zugleich Greensill-Angestellter.
In diesem Skandal stimmen die Fronten wieder: ein korrupter Beamtenapparat unter dem EU-Befürworter Cameron, dessen Machenschaften jetzt endlich auffliegen. Noch zu Beginn der Coronapandemie drängte Cameron bei Finanzminister Sunak, man möge doch Corona-Unternehmenskredite über Greensill abwickeln – vergeblich, aber mit fatalen Folgen.
Denn in der Debatte um Camerons privilegierten Zugang zu Ministern kam natürlich die Frage auf, wie zugänglich auch Premier Johnson für Lobbyisten ist. Manche Regierungsaufträge im Rahmen der Pandemiebekämpfung sind aufgrund privater Kontakte zustande gekommen. Als Schwachstelle haben Beamte identifiziert, dass der Premier seit zehn Jahren dieselbe Mobilnummer benutzt, über die ihn viel zu viele Leute direkt erreichen, statt den offiziellen Weg zu gehen.
Kostspielige Renovierung mit Spendengeldern
Eine weitere Schwachstelle: Carrie Symonds hat im Sommer 2020 mit großem Aufwand die Dienstwohnung des Premierministers im Gebäudekomplex um 10 Downing Street renovieren lassen, weil sie die von Theresa May geerbte Einrichtung nicht mochte. Dafür hat sie viel zu viel Geld ausgegeben: bis zu 200.000 Pfund, war zeitweise zu lesen. Inzwischen sollen bloß 58.000 bezahlt worden sein.
Für Johnson stellte schon die Regierungsübernahme einen gigantischen Einkommensverlust dar, und seine Scheidung zugunsten seiner neuen Liebschaft im Februar 2020 soll ihn weitere vier Millionen Pfund gekostet haben. Offiziell stehen einem neuen Premier beim Einzug für Renovierungen bloß 30.000 Pfund zu. Für diese Renovierung suchte Johnson also private Spender, auch von einer zu gründenden Parteistiftung war die Rede.
Für Konservative im Sinne von Genügsamkeit – also wie Theresa May und auch der Daily Mail – war das höchst suspekt, und für den von Äußerlichkeiten unbeeindruckten Cummings eine Steilvorlage. Als Johnsons Umfeld vergangene Woche den ehemaligen Chefberater für eine Enthüllung über privilegierte Unternehmerkontakte zu Johnson verantwortlich machte, ging er selbst auf seinem Blog in die Offensive.
„Es ist traurig zu sehen, wie der Premierminister und sein Büro so tief hinter die Standards von Kompetenz und Integrität zurückfallen, die dieses Land verdient“, schrieb er. Zur Renovierung von Johnsons Dienstwohnung sagte er, dies über heimliche Spenden zu bezahlen, wäre „unethisch, dumm, möglicherweise illegal“. Er dementierte, die „Ratte“ aus dem Krisenstab im Oktober 2020 gewesen zu sein, und legte nahe, es sei tatsächlich der Berater Henry Newman gewesen, ein Veteran der Cameron-Ära, der mit Symonds befreundet ist.
Jetzt fliegen die Fetzen. Medien trauen Cummings zu, dass er bei seinem Abgang die komplette digitale Kommunikation Johnsons mitgenommen haben könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag