Konflikte im Theater: Spielst du noch? Lehrst du schon?
Theater kann eine Zumutung sein. Oft aber mangelt es bei Themen der Gender- und Identitätspolitik an Reibung. Eine Suche nach offenen Denkräumen.
Gewalt regiert die Welt, und zwar in einem eiskalten Stakkato in Alice Birchs Stück „[Blank]“: Ein Mann vergewaltigt ein junges Mädchen. Das Mädchen wird schwanger. Seine Mutter tötet den Mann. Schnitt, ein anderer Fall: Eine Frau trinkt und vernachlässigt ihr Kind. All dieses Grauen und noch vieles mehr ereignet sich in einem Sündenpfuhl aus Drogen, Alkohol und sozialer Verwahrlosung.
Das schlimmste Faktum dieser markerschütternden Aufführung des Badischen Staatstheaters Karlsruhe: Sie kennt keinen Abgrund, sondern nur eine endlose Spirale des Missbrauchs, insbesondere an Kindern und Frauen. Da dieser tragische Kreislauf kein Ende nimmt, hat sich die Regisseurin Anna Bergmann in ihrer Uraufführung von „[Blank]“ für eine riesige Rondellbühne entschieden. Gedreht wird sie von den Figuren des Dramas, die dadurch allesamt als Sklaven ihres Schicksals erscheinen. Nichts ist veränderbar, nichts bleibt verborgen.
Zweifelsohne handelt es sich bei dieser Inszenierung um eine buchstäbliche Zumutung, spart doch die Regie nicht an harten Bildern. Selten hat man toxische Männlichkeit und den Konflikt zwischen Rollen- und Geschlechtsbildern so brutal auf einer Bühne erlebt.
Während sich dieses Schauspiel mit überzeugender Drastik zentralen Fragen der Gender- und Identitätspolitik stellt, werden diese gesellschaftsrelevanten Themen von vielen Bühnen aktuell anders aufgegriffen und verarbeitet. Die Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Formen von Differenz oder Andersartigkeit fördert dabei vielerorts einen nicht unbedenklichen Charakter von Theater zutage.
Diskriminierung und Heuchelei
Zum Beispiel in „R-Faktor“ von Ayşe Güvendiren, einer Abschlussinszenierung der Otto-Falkenberg-Schule: In einer komischen Anlehnung an die Mystery-Ästhetik des alten TV-Formats „X-Factor“ wird das Publikum knapp zwei Stunden mit Diskriminierungen im Kulturbetrieb konfrontiert. Man erfährt von den immer wiederkehrenden No-go-Fragen an People of Color im Schauspielbetrieb: Woher kommen Sie? Und wie kann man Sexszenen darstellen und zugleich ein Kopftuch tragen wollen?
Ähnliche Problemfelder deckt Gerhild Steinbuchs am Schauspiel Frankfurt zu sehendes Drama „In letzter Zeit Wut“ auf: Hier blicken wir auf eine Art Arena, in der es hoch hergeht. Während ein klischierter Chef namens Horst sich zum heuchlerischen Kämpfer für Frauenrechte stilisiert, rekapitulieren vier Frauen ihre tatsächlich wenig erbaulichen Erfahrungen in Bewerbungsgesprächen und die sich daran anschließende Ausbeutung im – ach so nicen und hierarchielosen – Betrieb. Bald schon schmettern sie uns alle chauvinistische Sprüche von Männern à la „Bist du immer so hysterisch oder nur unterfickt?“ entgegen.
Es soll hier nicht bezweifelt werden, dass solche Inszenierungen tatsächlich noch immer zu beklagende Missstände anprangern und ein Wegsehen oder Totschweigen von dieser Realität gänzlich fehl am Platz wäre. Nur muss die Frage erlaubt sein, was die schiere Häufung derartig gelagerter Aufführungen überhaupt im Theater bezwecken soll und wen sie adressieren?
Werden sie wirklich von denen nachdenklich wahrgenommen, die für die desaströsen Zustände verantwortlich sind oder zeigen sich nicht vielleicht doch Tendenzen einer zunehmend selbstzirkulären Theaterbranche? Sicher ist davon auszugehen, dass ein Großteil des zumeist emphatisch applaudierenden Publikums sich völlig auf der Höhe des aktuellen Diskurses um Gerechtigkeit bewegt. Es ist bestens zu Hause in den universitären Debatten über Patriarchalismus und Kolonialismus, wie sie von Schriften einer Judith Butler oder einer Donna Haraway motiviert wurden.
Nimmt man dies an, so dienen die Bühnenanklagen zumeist augenscheinlich der Bestätigung einer gewiss wichtigen, kritischen Weltsicht.
Überdenken eigener Haltungen
Was dieses von Oberseminaren inspirierte Theater allerdings nur noch begrenzt einlöst, ist das Versprechen der Alterität. Es bietet kaum Raum für Überraschungen oder emotional tief ergreifende Augenblicke, es mangelt ihm an Reibungsfläche und Widerständen, die einen zum auch einmal unbequemen Überdenken eigener Haltungen provozieren.
Zu den wenigen Stücken, die diese identitätspolitische Dominanz skeptisch betrachten und ihr gar mit einer gehörigen Portion Polemik begegnen, zählt Thomas Melles am Deutschen Theater Berlin uraufgeführte „Ode“ (2019), das sich immerhin zahlreicher, teils auch preisgekrönter Nachspiele erfreuen darf. Hierin nehmen wir daran teil, wie ein alter Darsteller Opfer von einer Gruppe von Normrigoristen wird. Sie verfügen über das gesamte Rüstzeug gegen einen weißen, heteronormativen, chauvinistischen, misogynen und rassistischen Kulturbetrieb. Und sie sind zornig und zu allem bereit. Und so fesseln die Wahrheitsapologeten in einer jüngeren Inszenierung des Textes am Schauspiel Köln den für sie das Feindbild schlechthin repräsentierenden Mann.
Rafael Sanchez, Regisseur der Kölner Inszenierung, sagte dazu in einem Nachtkritik-Interview vom März dieses Jahres: „Ich bewundere Menschen sehr, die tagtäglich Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus am eigenen Leib erfahren und sich weiterhin geduldig für eine bessere Gesellschaft engagieren. Ich muss aber gestehen, dass ich auch ein großes Verständnis habe und Sympathie hege für marginalisierte Gesellschaftsschichten, deren Geduldsfaden gerissen ist. Dass man als Betroffene:r kaum von Staat und Gesellschaft unterstützt wird und auf sich selbst gestellt ist und sich selber schützen muss, ist eine gesellschaftliche Bankrotterklärung. Und wenn man dann auch noch beschuldigt wird, sich abzugrenzen und einen Keil in genau diese Gesellschaft zu schlagen, dann ist das einfach nur eine ganz miese Täter-Opfer-Umkehr.“
Distanz beziehen
Die eine Sorge gegen die anderen auszuspielen, mag keine gute Option sein. Ob bei Diskriminierungen wegen jeder Art von Andersartigkeit oder bei tatsächlich materieller Ausbeutung – Repression basiert stets auf ähnlichen Mechanismen. Doch sobald das Theater gebetsmühlenartig seinen zumeist ohnehin in der Sache schon sensibilisierten Zuschauerinnen und Zuschauer immer wieder dieselben Botschaften präsentiert oder – zugespitzt gesagt – es darüber belehrt, verliert es einen Teil seiner Schlagkraft. Und nicht nur das, es wird auf eine paradoxe Weise unpolitisch.
Nachdem noch das Theater des Aristoteles sein Publikum zur mitfühlenden Identifikation einlud, kam spätestens mit Bertolt Brecht die wichtige, gesellschaftskritische Wende. Erst wenn das Publikum Distanz zur Darstellung beziehen kann, denkt es über eigene Positionen und das, was es sieht, wirklich nach, so die Idee hinter dieser Konzeption. Je besserwisserischer und eindeutiger Theater sich allerdings gebärdet, desto weniger bedarf es der die Welt kritisch hinterfragenden Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie sollen Aussagen herunterschlucken und am besten unentwegt wiederkäuen.
Wo sind also die Zwischenräume geblieben? Wo die Ambivalenz? Wo findet man noch, um es mit dem Theaterwissenschaftler Florian Malzacher zu sagen, „die Kunst, die selbstreflexiv ist, aber nicht in die Falle der Selbstreferentialität tappt“? – „eine Kunst, die politische Themen nicht als lautstarke Klischees aufgreift, dennoch klare Positionen wagt und dabei sowohl innere als auch äußere Widerstände aushält“?
Sicher, man findet sie noch. Aktuell beispielsweise in dem am Staatstheater Mainz zu sehendem Stück „Der Vorfall“. Hierin verhandelt die Autorin Deirdre Kinahan eine zurückliegende Vergewaltigung ihrer Protagonistin. Als jene Jahre danach ihrem Peiniger wieder begegnet, brechen alte Narben auf. Weil die Erinnerungen daran eigentlich nie weg waren, befinden sich auf der Bühne daher oftmals Frauen in Partykleidern. Für die Figuren sind sie unsichtbar und doch fungieren sie als menschliche Mahnmale, als Geister, die nie weg waren.
Solche Zugriffe gelingen, weil sie sich ureigenster Mittel des Theaters bedienen. Sie setzen auf schauspielerische Verve, auf stringente Entwicklung von Bildern und Szenen, auf gehaltvolle Dialoge, die nicht einer unmittelbaren didaktischen Ambition entspringen. Und sie bauen auf dem emotionalen und gleichsam wachrüttelnden Elan der Gesamtkomposition aus Musik, Text und Kulisse. Es braucht also kein Oberseminar auf dem Parkett, um Dekonstruktion zu vermitteln, sondern letztlich ein Theater, das vor allem sich selbst vertraut.
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