Konflikt zwischen Russland und Ukraine: Kiew dreht der Krim den Geldhahn zu
Der Streit um die Krim geht weiter. Die Frage, wer hinter den Todesschüssen vom Maidan steckte, bleibt strittig. Und der Chef des Rechten Sektors will Präsident werden.
KIEW/SIMFEROPOL/BERLN ap/dpa/afp/rtr | Im erbitterten Streit um die Krim hat die neue prowestliche Regierung in Kiew der moskautreuen Führung der Halbinsel den Geldhahn zugedreht. Wegen einer Sperrung der Bankkonten könne das Autonome Gebiet laufende Geschäfte nicht mehr finanzieren, sagte Krim-Vizeregierungschef Rustam Temirgalijew am Sonntag in Simferopol. Die Führung habe sich bereits an Moskau gewandt, um bei russischen Banken Konten zu eröffnen. Die Halbinsel werde sowieso die russische Währung Rubel einführen, sollte die Mehrheit der Krim-Bevölkerung am kommenden Sonntag – wie erwartet – für einen Beitritt zu Russland stimmen, sagte Temirgalijew.
Derweil attackierten prorussische Einheiten nach Angaben der Regierung in Kiew erneut ukrainische Militärstellungen auf der Krim. Mindestens 30 bewaffnete Männer in Uniformen ohne Hoheitsabzeichen seien in einen Stützpunkt im Westen der Halbinsel eingedrungen und hätten Technik zerstört, teilte das Verteidigungsministerium mit.
Auch auf den Straßen Sewastopols kam es am Sonntag zu Zusammenstößen zwischen Anhängern Moskaus und Unterstützern der neuen Regierung in Kiew. Rund hundert Menschen sollen mit Knüppeln mehrere Ordnungskräfte attackiert haben, die eine Kundgebung zum 200. Jahrestag des Geburtstags des ukrainischen Nationalhelden Taras Schewtschenko beschützten. Einige der Angreifer waren vermummt und trugen schusssichere Westen.
Die Angreifer zerstörten ein Auto und blockierten die Ordnungskräfte, zunächst war aber unklar, ob es Verletzte gab. Zu der Kundgebung für Schewtschenko kamen rund 200 Menschen. Sie schwenkten ukrainische Fahnen, sangen die Nationalhymne und kritisierten die „russische Besetzung“ der Krim.
Die Partei Udar (Schlag) von Ex-Boxchampion Vitali Klitschko forderte am Sonntag die Schließung der ukrainischen Grenze mit Russland sowie eine Sperrung des Luftraums der Ex-Sowjetrepublik. Die Führung in Kiew müsse verhindern, dass „Provokateure“ aus Russland ihre „Aggression“ fortsetzen könnten, hieß es in einer Mitteilung.
Die neue prowestliche Führung der Ukaine erhält inzwischen sogar Unterstützung aus den Reihen der russischen Opposition. Ex-Kremlkritiker Michail Chodorkowski hat am Wochenende das Protestlager auf dem Maidan in Kiew besucht. Er habe in Begleitung des ehemaligen Innenministers Juri Luzenko mit den Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz gesprochen, teilte Chodorkowski mit. Er war im Dezember nach zehn Jahren in russischer Lagerhaft freigekommen.
Der Chef der ultra-nationalistischen Bewegung Rechter Sektor in der Ukraine, Dmitro Jarosch, hat angekündigt, bei der Präsidentenwahl am 25. Mai anzutreten. Der Übergangsregierung, warf der 42-Jährige am Samstag vor, unprofessionell zu arbeiten und das Vertrauen der Bevölkerung zu verlieren. Der Chef der paramilitärischen Gruppe gehört als Vizeminister für Nationale Sicherheit selbst der Interimsregierung an, die sich nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch bildete. Jarosch verlangt das Verbot der Partei Janukowitschs und der Kommunistischen Partei.
Bislang hat bereits Klitschko seine Kandidatur angekündigt. Auch Ex-Außenminister Petro Poroschenko und Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko sind im Gespräch. Jarosch geht nach Ansicht von Experten als krasser Außenseiter in die Wahl. Russland wirft ihm Anstiftung zum Terrorismus vor.
Lawrow: OSZE soll Todesschüsse untersuchen
Auch der Kampf um die Aufklärung der Todesschüsse auf dem Maidan wird immer heftiger. Die ukrainische Übergangsregierung und der Kreml liefern ganz unterschiedliche Erklärungen der Ereignisse vom 20. Februar, die Dutzende Menschen das Leben kosteten. Für die neue Führung geht es um die Glaubwürdigkeit - beim eigenen Volk und innerhalb der internationalen Gemeinschaft.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte am Samstag eine Untersuchung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu den Todesschüssen in Kiew gefordert. Es gebe „zu viele Lügen“ in der offiziellen Version, dass allein die Sicherheitskräfte des nach Russland geflohenen früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch an dem Blutbad schuld seien, sagte Lawrow.
Tatsächlich konzentrierten die ukrainischen Behörden sich in ihren Ermittlungen bisher auf die Regierung des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch als wahrscheinlich Verantwortlichen. Nun steht aber auch die Theorie im Raum, Russland habe möglicherweise die Gewalt anfachen wollen, um ein militärisches Eingreifen zu rechtfertigen.
Der Kreml erklärt dagegen, die Scharfschützen seien von Anführern der Opposition angeheuert worden. Ihr Ziel sei es gewesen, im In- und Ausland Empörung über die Regierung auszulösen. Der neue ukrainische Gesundheitsminister Oleh Musij, der als Arzt die medizinische Versorgung am Rande der Protestaktionen organisierte, erklärte, die Opfer aus den Reihen der Opposition und der Sicherheitskräfte wiesen ganz ähnliche Schusswunden auf.
Gab es eine dritte Kraft?
Die forensischen Beweise deuten daraufhin, dass die Schützen versucht hätten, die Auseinandersetzungen anzuheizen, um Janukowitsch stürzen zu können und einen Grund für einen russischen Einmarsch zu liefern. Er glaube, nicht nur ein Teil des alten Regimes habe die Provokation geplant, „sondern das war auch die Arbeit russischer Spezialkräfte, die der Ideologie des alten Regimes dienten“, erklärte Musij.
So viel steht fest: Scharfschützen feuerten von Dächern und aus Fenstern auf den Maidan im Herzen der Hauptstadt Kiew. Einige Opfer waren Anhänger der Opposition, aber viele waren auch Passanten, die eindeutig nicht an den Demonstrationen beteiligt waren, Ärzte und Polizeibeamte. Die Kugeln wurden der Staatsanwaltschaft zufolge vom Gebäude der Nationalbank, mehrere hundert Meter vom Maidan entfernt, abgefeuert, vom Hotel Ukraine direkt an dem Platz und von einem Verwaltungsgebäude.
Innenminister Arsen Awakow deutete am Dienstag erstmals an, dass die Ermittlungen sich nicht mehr nur auf die alte ukrainische Regierung konzentrieren. „Ich kann nur eins sagen: Der wichtigste Faktor in diesem Aufstand, der Blut in Kiew vergoss und der das Land auf den Kopf stellte und schockierte, war eine dritte Kraft“, sagte der Minister. „Und diese Kraft war keine ukrainische.“
Russland nutzte die unklaren Verantwortlichkeiten, um die neue ukrainische Führung zu diskreditieren. Kremlchef Wladimir Putin erklärte am Dienstag in einer Pressekonferenz, die Scharfschützen seien möglicherweise „Provokateure aus den Reihen der Oppositionsparteien gewesen“.
Tatsächlich wurde einen Tag später ein Telefongespräch zwischen der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet veröffentlicht, das Putins Theorie zu stützen scheint. In dem Telefonat vom 26. Februar, das der russische Fernsehsender Russia Today veröffentlichte, erklärte Paet, er habe während eines Besuchs in Kiew von Demonstranten erfahren, dass Janukowitsch-Gegner hinter den Schüssen vom 20. Februar steckten.
Ein Arzt habe ihm gesagt, dass Polizeibeamte und Demonstranten von Kugeln desselben Kalibers getötet worden seien. Inzwischen werde immer mehr angenommen, dass irgendjemand aus der neuen Koalition die Heckenschützen beauftragt habe, erklärte Paet weiter.
Der estnische Minister bestätigte inzwischen die Echtheit der Aufnahme. Er sagte vor Journalisten in Tallinn, er habe nur wiedergegeben, was er von dem Arzt Olha Bogomolets gehört habe. Er könne dessen Aussagen aber nicht bestätigen.
Menschen „wurden umgemäht wie gras“
Der frühere Vize-Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU meldete sich am Donnerstag in einem Zeitungsinterview zu Wort. Hennadi Moskal erklärte, für die tödlichen Schüsse auf dem Maidan seien Heckenschützen des Innenministeriums und des SBU verantwortlich und nicht ausländische Agenten. „Die Scharfschützen erhielten den Befehl, nicht nur auf Demonstranten zu schießen, sondern auch auf Polizisten“, sagte Moskal der Zeitung zufolge. „Das geschah, um den Konflikt eskalieren zu lassen und eine Polizeioperation zur Räumung des Maidans zu rechtfertigen.“
Der 57 Jahre alte Alexander Tonskich erlitt auf dem Maidan eine Schusswunde. Er erzählt, er habe sich gemeinsam mit zahlreichen anderen Demonstranten am Morgen des 20. Februar in Richtung Süden vom Maidan entfernt. Die Polizisten hätten sich plötzlich zurückgezogen und dann seien schon aus zwei Richtungen die Schüsse gefallen. Die Menschen „wurden umgemäht wie Gras“. Mindestens zehn seien sofort tot gewesen.
Danach sei aus einer dritten Richtung geschossen worden. Er habe sich hinter einem Baum versteckt, sei aber dennoch von einer Kugel getroffen worden, die in seinen rechten Arm eintrat, seine Lunge durchschlug und unterhalb des Herzens steckenblieb. Dann verlor er das Bewusstsein.
40 Verletzte werden nach Deutschland geflogen
Die deutsche Luftwaffe bringt einem Zeitungsbericht zufolge 40 bei Straßenschlachten verletzte Ukrainer zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. Ein Bundeswehr-Airbus werde die Patienten kommende Woche nach Berlin bringen, von wo aus sie in verschiedene Kliniken gebracht würden, berichtete die Bild am Sonntag. Unter ihnen seien Demonstranten und Polizisten, die am Rande der Proteste auf dem Maidan-Platz verwundet worden seien - viele von ihnen durch Schüsse.
„Den Verletzten wollen wir helfen, wieder ein gutes und möglichst normales Leben führen zu können“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) der Zeitung. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) bezeichnete es als „Selbstverständlichkeit, dass Deutschland Solidarität mit den Menschen der Ukraine zeigt. Die Ärzteteams der Bundeswehr sind bereits in Kiew vor Ort und bereiten alles vor.“
Dem Bericht zufolge hatten Vertreter des ukrainischen Parlaments die deutsche Botschaft in Kiew um Hilfe gebeten, da die Patienten in der Ukraine unzureichend behandelt würden. Die Regierung in Kiew kündigte zudem an, auch mehrere Verletzte der blutigen Straßenschlachten zur weiteren Behandlung nach Israel auszufliegen.
Agressiver Virus in ukrainischen Behördencomputern
Britischen Experten zufolge werden Computersysteme in der Ukraine seit geraumer Zeit von einem besonders aggressiven Virus heimgesucht. Der erste Befall sei bereits im Jahr 2013 registriert worden, teilte das britische Unternehmen BAE Systems am späten Freitag mit. Bei dem Virus namens „Snake“ handle es sich um eine der „anspruchsvollsten und beharrlichsten Bedrohungen“, die Experten geläufig seien.
Das Virus ist den Angaben zufolge bereits seit Jahren bekannt. Es sei aber weiterentwickelt worden und seit dem vergangenen Jahr, vor allem aber seit Jahresbeginn vermehrt in Umlauf gebracht worden. Laut BAE Systems ist ein vorrangiges Ziel die Ukraine. Es gebe Hinweise, dass „Snake“ aus Russland gesteuert werde. Das Virus erlaubt es demnach denjenigen, die es kontrollieren, umfassend auf Rechner zuzugreifen.
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