Kommentars: Wille zum Wahn
Putin setzt den KSE-Vertrag über die Atomwaffenabrüstung außer Kraft. Russlands Außenpolitik hat offensichtlich die Orientierung verloren.
W er sich bedroht fühlt und umzingelt, der täte gut daran, Strukturen nicht anzutasten, die seit nunmehr 17 Jahren für Europas Sicherheit sorgen. Er sollte sich auch mit Nachbarn gut stellen. Doch mit der Aussetzung des KSE-Vertrages macht Moskau nun das Gegenteil. Das Abkommen gehört zu den wenigen Verträgen, die im kommenden Jahrzehnt nicht neu verhandelt werden müssten. Wozu also dieses jüngste Störmanöver?
Realpolitiker können daraus nur einen Schluss ziehen: Russland fühlt sich so sicher wie nie zuvor - und das bereitet ihm Unbehagen. Russisches Denken folgt einer Maxime: Wer keine Feinde hat, ist nicht ernst zu nehmen. Und: In Russland stehen Wahlen an - nicht viel mehr steckt hinter der Volte aus dem Kreml.
Natürlich ist Russland über die US-Raketenpläne verärgert. Es fürchtet aber nicht das Zerstörungspotenzial der Waffe, zumal bislang noch gar nicht geklärt ist, ob sie jemals disloziert wird und auch noch funktioniert. Und wer weiß, wie der nächste US-Präsident die Dinge sieht? Daher überrascht es eher, wenn Moskau mit Vorschlägen eines gemeinsamen Abwehrsystems unterstreicht, dass es die potenzielle Bedrohung ähnlich wahrzunehmen scheint wie Washington.
In Wirklichkeit geht es um anderes: Russland will gefragt werden, an einem Tisch mit den Großen sitzen und in jener Rolle bestärkt werden, die es nicht mehr innehat. Es leidet an eingebildeter Stärke. Doch selbst das fette Konto aus Petrodollars würde für die Eröffnung eines neuen Rüstungswettlaufs nicht reichen.
Der russischen Außenpolitik fehlt die strategische Linie: Sie ist unlogisch, emotional und voluntaristisch, was dazu führt, dass sie gegen eigene Interessen verstößt. Eine echte Großmacht lässt sich weder kränken noch leidet sie an einem Minderwertigkeitskomplex. Sie agiert und pokert vielleicht. Aber sie gebärt sich nicht wie ein pubertierender Heranwachsender, dessen Ungehobeltsein die Aufmerksamkeit Erwachsener einfordern will, um endlich die eigene Orientierung zu finden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus