Kommentar: Das Doppelgesicht der Früherkennung
Früherkennung und Prävention gelten hierzulande als Privatsache. Deshalb entwickelt sich nur in den oberen Schichten ein Gesundheitsbewusstsein.
I n Deutschland sind die Menschen unnötig krank. Zahllose Studien und Erfahrungen aus anderen Ländern belegen, dass die Häufigkeit problematischer Krankheitsverläufe insbesondere bei den Volkskrankheiten wie Diabetes oder Krebs durch bessere Vorsorge und Früherkennung deutlich gesenkt werden kann. Doch Früherkennung und Prävention gelten hierzulande als Privatsache, und deshalb entwickelt sich nur in den oberen Schichten ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein.
Ein Festhalten am Dogma der nur freiwilligen Früherkennung und Prävention vergrößert in einer gespaltenen Gesellschaft die gesundheitlichen Ungleichheiten: Am ehesten angesprochen werden die ohnehin gesundheitsbewussten Angehörigen der Mittel- und Oberschichten. Sozial Unterprivilegierte werden deutlich weniger erreicht, obwohl diese Personengruppen häufiger krank sind. Armut und soziale Randständigkeit bewirken auch eine hartnäckige aus fehlender Anerkennung und Perspektivlosigkeit erwachsene Mentalität, die einem freiwilligen gesundheitsbezogenen Engagement entgegensteht. Obwohl staatliche Politik von Früherkennung und Prävention immer auch ein Instrument der Disziplinierung und Normierung darstellt: Finanzielle Anreize zur Beteiligung an Früherkennungsmaßnahmen für Angehörige unterer Sozialschichten besitzen dann ein emanzipatorisches Potenzial, wenn sie zu eigenem gesundheitsbezogenem Engagement ermuntern.
Problematisch ist eine Pflicht zur Früherkennung aber dann, wenn sie eine Ideologie des "Jeder ist für seine Gesundheit selber verantwortlich" weiter stärkt oder eine Expertenherrschaft fördert, die die Betroffenen entmündigt. Das ist etwa in der Diskussion über Reihenuntersuchungen bei Brustkrebs zu erkennen. Vernebelt wird nicht nur der Unterschied zwischen der Vermeidung und der bloßen Früherkennung einer Erkrankung. Ein Zwang zur Reihenuntersuchung ohne Qualitätsverbesserungen erhöht zudem die Zahl falscher Diagnosen und spricht Frauen unter Verweis auf die Statistik pauschal die Kompetenz zur gesundheitlichen Eigenwahrnehmung ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Strategien gegen Fake-News
Das Dilemma der freien Rede