Kommentar: Kreatives Denken
■ Die verzwickte Lage in Sachsen-Anhalt ist der erste Test für Schröder
Die ersten Schockwellen über die Wahl in Sachsen-Anhalt sind langsam abgeebbt, der Überraschungscoup der DVU hat die obligatorischen Standarderklärungen im Nachgang rechtsextremer Wahlerfolge produziert. Nun kristallisieren sich langsam die Fragen heraus, die für den Bundestagswahlkampf relevant sein werden.
Das Problem des SPD-Kandidaten Schröder ist, trotz der Entscheidungen, die jetzt in Magdeburg fällig sind, weiterhin einen Wahlkampf zu führen, der ihn auf nichts festlegt. Schröder, so klagen die CDU-Wahlkampfstrategen, geriert sich wie der sprichwörtliche Pudding, den man nicht an die Wand nageln kann. SPD- Wahlkampfchef Müntefering hat die inhaltliche Wackelei Schröders geradezu in den Kultstatus erhoben und erzählt jedem, er hätte noch nie jemanden getroffen, der die SPD für ihr Programm gewählt hätte. Jetzt droht Sachsen-Anhalt zum Topf zu werden, in dem der Pudding landet. Zum ersten Mal seit seiner Nominierung sieht es so aus, daß Schröder sich entscheiden muß, daß er sich nicht mehr herausreden kann und seine Führungsqualität getestet wird. Sich zurückhalten und Reinhard Höppner machen lassen kann er nicht, weil er für die zukünftige Regierung in Sachsen-Anhalt mit haftbar gemacht wird. Drängt Schröder zu sehr auf eine Große Koalition, verprellt er den Osten, gibt in Bonn zur Unzeit ein Signal in Richtung Große Koalition im Bund und verhilft der CDU zu einem Erfolg, den die Wähler ihr nicht gegönnt haben. Läßt er eine PDS-tolerierte Minderheitsregierung zu, hat er nicht nur den befürchteten Lagerwahlkampf am Hals, sondern auch den innerparteilichen Konflikt über den Umgang mit der PDS. Die Situation entwickelt sich zu einer echten Denksportaufgabe. Es gibt nicht nur diese beiden Alternativen, verkündete Ministerpräsident Höppner nach zweitägiger Klausur sibyllinisch. Eine Minderheitsregierung, die von der CDU toleriert wird, gibt Müntefering schon mal als Beispiel für kreatives Denken. Wie wär's mit einer Allparteienregierung gegen die DVU oder mit einer Minderheitsregierung der CDU? Wenn man die Phantasie in die Freiheit entläßt, wird vieles möglich. Die SPD hat es schon bei der Kandidatenfrage geschafft, der Nation fast ein Jahr lang eine Dauerperformance zu bieten. Vielleicht schafft Schröder es in Sachsen- Anhalt ja noch mal, das Publikum bis Ende September bei Laune zu halten. Jürgen Gottschlich Bericht Seite 6
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