Kommentar: Tabellen gegen die Unsicherheit
■ Die Deutschen und ihre Angst vor rot-grünen Reformen
Viele haben schon mit dem Rechnen begonnen. Gewinne oder verliere ich mit Rot-Grün? In der medialen Vermittlung, die nichts weiter ist als die Erfüllung heimlicher Wünsche, wird die rot-grüne Reformpolitik auf die Frage reduziert: Mach' ich ein Schnäppchen, oder zahl' ich drauf? Die Frage ist zwar ernst zu nehmen, doch die vielerorts veröffentlichten Tabellen sind vor allem ein Mittel gegen die Angst. Die Angst vor Veränderung.
Ganz gleich, wie differenziert die Rechnungen sind, die Wirklichkeit ist immer noch komplexer. Laut Bild, die sich vom Bund der Steuerzahler die Tabellen errechnen läßt, haben Arbeitnehmer mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 60.000 Mark durch die Steuerreform fünf Mark mehr pro Monat. Wer 200.000 Mark verdient, bekommt nur drei Mark mehr. Das nennt sich Umverteilung! Aber was ist, wenn der ledige Arbeitnehmer mit 3.500 Mark Bruttogehalt im Jahr noch 150 Kilowattstunden Strom verbraucht, 200 Liter Heizöl und 60 Liter Benzin verschwendet? Dann verliert er im Monat wieder drei Mark! Und wenn er noch mehr Strom verbraucht, noch mehr heizt und noch mehr Auto fährt, dann muß er sogar 20 Mark im Monat draufzahlen. „Schocktabelle“ titelt Bild, der Spiegel warnte schon vor der enttäuschten „Neuen Mitte“. Die Unternehmer rechnen mit Milliardendefiziten, Rot-Grün wiederum mit einem Plus für Firmen, je nachdem, ob Verlustunternehmen oder erfolgreiche Betriebe als Ausgangsbasis dienen.
SPD und Grüne ziehen aus dem öffentlichen Polit-Basar jetzt eine bemerkenswerte Konsequenz: Die endgültige Liste der Gegenfinanzierungen, also der höheren Belastung von Beschäftigten und Unternehmern in einzelnen Punkten, bleibt vorerst unter Verschluß. Erst wenn die Gesetzentwürfe gebastelt werden, so heißt es, werde die Liste der Grausamkeiten nach und nach veröffentlicht. Vorzeitig bekanntgegeben, würde die Liste den noch empörteren Aufschrei der Lobbyisten hervorrufen. Häppchenweise könnte so die Steuerreform wieder zunichte gemacht werden. Undemokratisch ist diese Geheimhaltung von Rot-Grün und gleichzeitig sehr pragmatisch. Die rot-grüne Taktik zeigt, wie schwer heute die Verbindung von Einzel- und Gesamtinteressen, und damit Politik, zu vermitteln ist. Nicht nur die Wähler haben Angst vor den Reformen, auch die Reformer haben Angst vor den Wählern. Barbara Dribbusch
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