Kommentar: Nichts kommt von alleine
■ Die SPD auf dem Boden der Tatsachen
Der Traum währte nur kurz. Als SPD und Grüne bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst zusammen 49,1 Prozent der Stimmen errangen, war für die Genossen in der Stadt das Ende der Zwangsehe mit den Christdemokraten schon in greifbare Nähe gerückt. Jetzt gibt es lange Gesichter, weil beide Wunschpartner bei der Europawahl auf 39,2 Prozent abgerutscht sind.
Doch die 26,7 Prozent vom Sonntag sind alles andere als ein Ausnahmeergebnis, wie die führenden Sozialdemokraten offiziell behaupten. Die SPD ist vielmehr auf dem harten Boden der langjährigen Berliner Tatsachen gelandet. Zu kühn war die Hoffnung, die Anti-Kohl-Stimmung des vergangenen Jahres in eine Anti-Diepgen-Stimmung gegen den seit 1984 amtierenden Bürgermeister ummünzen zu können. Zu leichtfertig war der Glaube, ein flüchtiger bundespolitischer Rückenwind allein könne eine Neuauflage des Wunders von 1989 bewirken, als Momper aus einer scheinbar aussichtslosen Startposition die Wahl gewann.
Um an die Wahlerfolge früherer Jahrzehnte anknüpfen zu können, muß die SPD erst einmal ihren Platz im Berliner Parteiensystem finden, das sich seit dem Fall der Mauer völlig neu herausgebildet hat: Die PDS vertritt den Osten, die CDU den Westen, die grüne Partei das Milieu der Innenstadtbezirke. Die SPD dagegen, einst die Partei der kleinen Leute, hat kein klares Profil – und überall ungefähr gleich wenig Wähler. Die anhaltende Spaltung der Stadt macht die Lage so vertrackt wie in keinem anderen Bundesland: Eine Mehrheit ohne die PDS ist für die SPD schwer zu erreichen. Mit der PDS kann sie aber des Westens wegen erst recht nicht regieren. Zudem hat die Partei mit ihrer rigiden Haushaltspolitik, zu der es keine Alternative gab, ihre Stammklientel verschreckt. Für ein entschlossen modernes Profil reicht der reformerische Elan nicht. Mehr als ein lustloses „Weiter so“ ließ sich der Spitzenkandidat gestern zur Analyse des Wahlergebnisses nicht einfallen.
Doch die Zeit des Verdrängens ist seit Sonntag vorbei. Unsanft haben die Wähler die SPD daran erinnert, daß sie im Herbst nichts geschenkt bekommt. Ralph Bollmann
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