Kommentar: Absage an den Erzengel ■ Die Taliban bleiben Realpolitiker
Erzengel“ nennen die US-Behörden die Sicherheitsmaßnahmen zur Silvesternacht rund um den New Yorker Times Square. 8.000 Beamte sollen die Ostküstenmetropole vor mutmaßlichen islamischen Terroranschlägen bewahren. Samuel Huntingtons fatale These vom „clash of civilizations“ hat zum Jahrtausendwechsel Hochkonjunktur.
Derweil beweisen die afghanischen Taliban Sinn für Realismus. Streng ideologisch gesehen hätten sie die Entführer des indischen Airbusses mit offenen Armen empfangen müssen: Die Hijacker sind Glaubensbrüder und Verbündete im Kampf gegen das „gottlose“ Indien. Stattdessen umstellen die „Koranschüler“ das Flugzeug und drohen gar, es zu stürmen.
Die Ereignisse in Kandahar zeigen: Entführern wie Gastgebern wider Willen geht es weniger um Religion als um politische Interessen. Die vorwiegend kaschmirischen Hijacker wollen Gefolgsleute freipressen, die Taliban streben nach internationaler Anerkennung. Das verwundert nicht. Schließlich wurde die Gründung der Taliban von den USA unterstützt. Die Gotteskrieger sollten Afghanistan befrieden, damit westliche Firmen Öl und Gas aus Zentralasien exportieren könnten, ohne auf den US-Erzfeind Iran angewiesen zu sein.
Aber spätestens seit der Wahl des reformorientierten Mohammad Chatami zum iranischen Präsidenten ist die Islamische Republik nicht mehr recht feindbildtauglich. US-Ölfirmen verhandeln in Teheran. Und auch die Taliban haben inzwischen ihre Fühler in Richtung des islamistischen Konkurrenten ausgestreckt. Vor einem Jahr drohte noch Krieg zwischen den beiden Nachbarn. Mittlerweile haben die Taliban sich zwischen internationaler Isolation und Anerkennung als Regionalmacht entschieden – für letzteres.
Die Entführung nach Kandahar beleuchtet grell das Verhältnis des Westens zu den einst im Krieg gegen die UdSSR unterstützten islamischen Terroristen. Zumindest die klügeren Köpfe unter ihnen haben sich den Sinn für Realpolitik bewahrt. Das könnte eine Grundlage für Verhandlungen sein – und nur durch diese lassen sich gerne als „westlich“ denunzierte Werte wie Menschenrechte global glaubhaft durchsetzen. Der ganz im Sinne Huntingtons bemühte Engel Michael samt Schwert taugt dazu freilich wenig.Thomas Dreger
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