Kommentar zur „Flüchtlingskatastrophe“: Nennt es doch einfach Volksfest
Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte fordert, die schlechte Lage der Flüchtlinge zu verbessern. Er hat Recht, auch wenn seine Wortwahl eine Katastrophe ist.
Christian Hanke ist derzeit einer der wenigen Politiker in Berlin, der sich ohne Zweifel für mehr Flüchtlingshilfe einsetzt. Jetzt hat der Bürgermeister des Bezirks Mitte mal wieder klare Worte gefunden. Angesichts der dramatischen Lage, fordert der SPD-Politiker, solle man das Problem wie einen Katastrophenfall behandeln. Eine mehr als heikle Wortwahl.
Denn die Menschen aus Syrien, Albanien, Moldawien und vielen anderen Länder, die zurzeit in der Stadt Zuflucht suchen, sind nicht die Katastrophe, die bekämpft werden muss. Im Gegenteil. Sie brauchen Hilfe. Jetzt. Hier. Sofort. Das klappt leider bei weitem nicht so gut, wie es nötig wäre. Denn der Katastrophenfall ist tatsächlich längst eingetreten. Im Berliner Senat.
Inhaltlich aber hat Hanke natürlich Recht. Berlin befindet sich in einem Ausnahmezustand, der besonderes Handeln erfordert. Engagement auf allen Ebene. Und ohne Zögen. Doch eine Ausnahmezustand muss ja nichts Negatives sein. Welche Stadt wüsste das besser als Berlin?
Nehmen wir zum Beispiel den Ausnahmezustand Marathon. Jahr für Jahr Ende September stellt Berlin ein Superevent auf die Beine, wenn Zehntausende durch die Stadt joggen. Dank einer wunderbaren Zusammenarbeit der lokalen Behörden, der Polizei und tausender Freiwilliger klappt das nicht nur wie am Schnürchen, es gibt sogar noch jede Menge Musik am Rande. Was für ein Fest! Nennen wir den Flüchtlingssupport also „Marathon“. Das passt, auch weil es sich um eine Langzeitaufgabe handeln wird.
Oder einfacher noch: Nennen wir das ganze doch ein Fest. Willkommens-Fest! Bei jeder Megasause gibt es sanitäre Einrichtungen, ärztliche Notfallhilfe und jede Menge Essen. Und alle, die kommen, werden aufs herzlichst begrüßt. All das haben auch die Flüchtlinge gerade dringend notwendig.
Tatsächlich ist diese Party längst im Gange. Tag für Tag, Abend für Abend, Nacht für Nacht feiern Engagierte und Flüchtlinge zusammen ein gigantisches Begegnungsfest, wie es Berlin wunderbar zu Gesicht steht. Vor dem Lageso, in Notunterkünften und Privatwohnungen wird eine interkulturelle Humanität zelebriert, die ihresgleichen sucht. Mit viel Drama und Emotionen, Leiden und Freudentränen.
This is the place to be. Wer dort nicht hingeht, hat in diesem Sommer etwas verpasst. Und das – nur das – ist dann tatsächlich eine ganz persönliche Katastrophe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen