Kommentar zum FDJ-Prozess: Gefühlte Bedrohung
Das Verbot der FDJ gehört aufgehoben. Sie stellt keine Gefahr für die Demokratie da. Antiwestliches Denken ist wieder in.
Der Prozess gegen den FDJ-Emblem-Träger in München mutet nicht nur lächerlich an, er ist es auch. Die DDR wird nicht wieder auferstehen, die FDJ wird nie wieder Jugendliche drangsalieren können. Die bayerische Staatsanwaltschaft, die gerne gegen links ermittelt, und die obskure K-Gruppe, die Mitglieder seit Jahrzehnten zum Blauhemdtragen anhält, führen ein anachronistisches Stück aus dem letzten Jahrhundert auf.
Die Bundesregierung sollte das aus den 50er Jahren stammende Verbot der FDJ daher schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit endlich aufheben. Eine Gefahr für die Demokratie geht nicht von ihr aus.
Antiwestliches Denken blüht dennoch wieder auf. Es hat aber – weil der Ostblock nicht mehr existiert und daher niemandem mehr als bessere Alternative verkauft werden kann – seine Form verändert. Es steckt heute in all den Verschwörungstheorien, die nachzuweisen versuchen, dass sämtliche Attentate und Massaker der letzten 25 Jahren nicht den Autokraten oder Islamisten dieser Welt zugeschrieben werden können: von Srebrenica über den 11. September bis hin zu Charlie Hebdo. Es steckt in dem Glauben, dass der Westen Beweise fälscht oder unterdrückt, vielleicht sogar die Attentate selbst verübt hat.
Nicht nur in einzelnen Fällen wie vor dem Irakkrieg, sondern (fast) immer. Denn wenn dem so wäre, wären nicht die Putins, Assads und Bin Ladens eine große Bedrohung, sondern der Westen selbst. Und wenn die Verschwörungstheoretiker ebenso recht hätten, dass die Medien die Wahrheit systematisch verschweigen, wäre der Westen nicht demokratischer als, sagen wir, Russland.
Deshalb muss man die Öffnung etwa des Onlinemagazins Nachdenkseiten für Verschwörungstheoretiker ernstnehmen: Nach dem Mauerfall war es linker Konsens, dass man den Westen demokratischer und sozialer machen muss, statt ihn grundsätzlich zu bekämpfen. Dieser Konsens scheint in manchen Teilen aufzubrechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern