Kommentar von Bert Schulz zur Wahl Giffeys zur Berliner Regierungschefin: Berlin als Sprungbrett
Die SPD feiert derzeit ungeahnte Erfolge. Dabei ist etwas untergegangen, dass der größte Shootingstar der Partei nicht Olaf Scholz ist, sondern Franziska Giffey. Schon 2018 gelang ihr der weite Sprung aus dem Bürgermeistersessel von Berlin-Neukölln an die Spitze des Bundesfamilienministeriums, wo sie mit kreativen Gesetzestiteln wie „Gute-Kita-Gesetz“ auffiel. Von dem Amt musste Giffey im Mai wegen der Plagiatsaffäre um ihre Doktorarbeit zurücktreten. Am Dienstag wurde sie zur Regierenden Bürgermeisterin der Hauptstadt gewählt. Sie wird die seit 2016 regierende Koalition mit Grünen und Linken fortsetzen.
Eine als erschummelt enttarnte Doktorarbeit hat noch kein Bundespolitiker überlebt. Für Giffey ist die Affäre hingegen eher das Sprungbrett für die nächste Karriererunde. Zwar ätzten linke Kritiker*innen, Berliner Regierungschefin könne man auch nach so einem Skandal noch werden – „für Berlin reicht es noch“. Das bezog sich auch darauf, dass seit 1989 der Posten des Regierenden Bürgermeisters eher eine politische Sackgasse war. Kennt jemand noch Eberhard Diepgen (CDU)? Klaus Wowereit wäre auch gern was im Bund geworden, und Giffeys Vorgänger Michael Müller landet jetzt als Hinterbänkler im Bundestag.
Giffey dürfte es besser ergehen, wenn sie das denn will – woran wenig Zweifel bestehen. Sie hat ein hervorragendes Gespür dafür, Situationen politisch richtig einzuschätzen; sie ist stark darin, Menschen im Gespräch für sich zu gewinnen, und sie schätzt klare Ansagen. Mit diesen Talenten hat sie den Wahlkampf gewonnen und die akribisch geführten Koalitionsverhandlungen mit Grünen und Linken zu einem erfolgreichen Ende gebracht. Erfolgreich dahingehend, dass die Koalition tatsächlich zustande kam und eine deutliche SPD-Handschrift trägt.
Doch Macht gewinnen ist das eine, sie zu erhalten bisweilen schwieriger. In Berlin steht Giffey vor zwei Herausforderungen: Sie hat sehr viel versprochen. Die drängende Wohnungsnot will sie vor allem mit dem Bau von jährlich 20.000 Wohnungen bekämpfen. Zudem soll es auf den berüchtigten Berliner Bürgerämtern wieder innerhalb von zwei Wochen Termine geben. Daran war schon Michael Müller gescheitert. Und sie will die Stadt sauberer machen. Auch bei Grünen und Linken bezweifeln viele, dass diese Ziele erreichbar sind.
Gleichzeitig darf sie die Koalition nicht zu hart führen. Giffey muss die vielen erwartbaren Konflikte, etwa beim Umgang mit dem Enteignen-Volksentscheid, moderieren. Eine heikle Angelegenheit bei einem Dreierbündnis.
Hält die Koalition und arbeitet sie erfolgreich, steht für Giffey vielleicht schon in vier Jahren der nächste Karrieresprung an: Die Frau könnte auch Kanzlerin.
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