Kommentar (siehe S. 22): Krüppel als Kanzler
■ Ist diese Frage etwa erlaubt?
Ein Krüppel als Kanzler? Was für eine unanständige Frage. Schäuble selbst hatte sie gestellt. In den Medien wurde sie fortan wieder und wieder diskutiert. Genüßlich entwarfen Politik-RedakteurInnen bunte Szenarien über den möglichen Verfall eines behinderten Regierungschefs. Eine unwürdige, diskriminierende Diskussion, fanden Kritiker. Behindertenverbände protestierten. Nicht ganz zu Unrecht. Warum sollte es keinen Kanzler im Rollstuhl geben?
Die Ehefrau von Schäuble nahm den Kritikern schließlich den Wind aus den Segeln. „Ich glaube, ... daß es nicht leicht wäre, der Öffentlichkeit das Bild eines Kanzlers im Rollstuhl zu vermitteln. Ich habe da sehr große Bedenken“, sagte sie in einem Interview mit dem Stern. Schäuble selbst erklärte, daß er an der Diskussion nichts Anstößiges fände. Ein Krüppel als Kanzler – die Frage müsse man stellen, sagte er. Ein cleverer Schachzug. Durch seine unverkniffene Haltung gewinnt Schäuble Profil.
Auch die Wahlveranstaltung in Bremerhaven hat gezeigt, daß diese Frage – politische Korrektheit hin, politische Korrektheit her – die Wähler umtreibt. Menschen sind Voyeure. Ein Krüppel als Kanzler ist ihnen suspekt. Daß diese Frage so hohe Wellen geschlagen hat, ist entlarvend. Es wäre Heuchelei gewesen, die Frage – die alle interessiert – nicht zu stellen. Kerstin Schneider
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