Kommentar jugendliche Straftäter: Genaues hinschauen tut weh
Die Gleichung mehr Überwachung bedeutet mehr Sicherheit geht nicht auf.
E s ist unerträglich. Bei dem Überwachungsvideo aus dem U-Bahnhof Friedrichstraße tut schon bloßes Hinschauen weh. Für eine vernünftige Reaktion aber muss man genau das: genau hinschauen, auch wenn es schwer fällt.
Fakt 1: Der junge Mann, der seinem Opfer auf den Kopf gesprungen ist, sitzt nicht hinter Gittern. Er ist vorerst frei. Das widerspricht dem Bauchgefühl. Aber Rechtsprechung beruht zum Glück nicht nur auf Strafe, sie arbeitet auch mit Anreizen. Der Täter hat sich selbst gestellt. Das muss ein Richter belohnen.
Fakt 2: Der Schläger war unbescholten und stammt aus gutem Hause. Sämtliche Ideen von Prävention greifen ins Leere.
Fakt 3: Die Videoüberwachung hat zur Aufklärung beigetragen. Verhindert hat sie die Tat nicht. Mehr Kameras würden vor allem eins bringen: mehr Bilder von Gewalt. Verhindern werden sie sie leider nicht. Eine Überwachungslinse mag einen wohlkalkulierender Gentleman-Bankräuber beeinflussen. Wildgewordenen Schlägern hingegen ist es nicht einmal egal, ob sie gefilmt werden. Sie denken offensichtlich nicht bei ihrer Tat.
Fakt 4: Das Video zeigt eine brutale Tat auf einem ansonsten leeren Bahnsteig. Dabei sprechen Zeugen von vielen anderen, die weggeschaut haben sollen. Selbst objektiv scheinende Bilder können nicht die ganze Wahrheit erzählen.
Mehr Überwachung und härtere Strafen befriedigen das Bedürfnis nach Revanche. Entsprechende Forderungen machen sich im Wahlkampf gut. Sicherheit aber garantieren nicht mal sie. Das ist ja das unerträgliche.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Studie zu Zweitem Weltkrieg
„Die Deutschen sind nackt und sie schreien“