Kommentar dauerhafter Reformationstag: Lieber ein Tag der Befreiung
Der Mehrheit der Religionslosen in Berlin wird viel zugemutet. Statt Luther braucht es neue, nichtreligiöse Feiertage.
N ach dem einmalig bundesweit begangenen Reformationstag mehren sich die Stimmen derer, die diesen Feiertag auch in Berlin auf Dauer stellen wollen. Etwaige Politiker, die auf diesen Zug aufspringen, erhoffen sich dabei den ewigen Dank des dauerarbeitenden Wahlvolkes. Denn eines stimmt ja: Mit nur neun Feiertagen im Jahr ist Berlin im bundesdeutschen Vergleich das Schlusslicht. Die Brandenburger dürfen ganze drei Tage mehr die Füße auf den Couchtisch legen.
Und doch gibt es keinen vernünftigen Grund, ausgerechnet den Luther’schen Thesenanschlag von vor 500 Jahren als Begründung für einen neuen Feiertag herzunehmen. Selbst nach einem qualvoll langen Lutherjahr wird die Mehrheit der BerlinerInnen kaum etwas über den Inhalt der Thesen und ihre Bedeutung wissen – ganz einfach, weil es sie nichts angeht. Nur 15,9 Prozent der BerlinerInnen sind Mitglied der – in ihrem Gründungsmythos eng mit Luther verbundenen – evangelischen Kirche, und es werden immer weniger.
Vor allem die Überzahl der Konfessionslosen und Atheisten hat das Recht darauf, von Religion verschont zu werden. Schlimm genug, dass sie schon bislang fast ausschließlich zur christlichen Pfeife tanzen bzw. stillstehen dürfen. Als gäbe es keine anderen, integrativeren, unproblematischeren Gründe, nicht zu arbeiten. Verschont werden sollten wir alle von einem Reaktionär und Antisemiten, einem Heizer gegen Frauen, Behinderte und aufständische Bauern, wie Luther es war.
Das alles heißt nicht, dass ein paar mehr Tage, in denen der kapitalistische Normalbetrieb zur Ruhe kommt, nicht angebracht wären. Die kürzlich von Innenminister Thomas de Maizière angestoßene Diskussion über einen muslimischen Feiertag kann man führen; dieser sollte jedoch einen christlichen Tag ersetzen. Neue Feiertage brauchen neue, nichtreligiöse Gründe. Feiern wir lieber die Menschenrechte, unsere Umwelt oder den Tag der Befreiung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los