Kommentar Zukunftsvorsorge: Schwarzbrotessen fürs Alter
Deutsche Versicherer fordern mehr Selbstkontrolle für ein besseres Leben im Alter. Aber dazu braucht man erst mal genug Zeit, Kraft – und Geld.
S o sieht sie also aus, die Bürgerin oder der Bürger, die oder der sich perfekt auf das Alter vorbereitet: Geht mehrmals in der Woche ins Fitnessstudio, isst viel Vollkornbrot und Gemüse, verbringt regelmäßig Zeit mit Familie und Freunden und legt allmonatlich eine ordentliche Summe auf die hohe Kante: für später, fürs Alter, anstatt das Geld für Klamotten oder Reisen rauszuhauen.
„Zukunftsorientiertes Handeln erfordert Selbstkontrolle in der Gegenwart“ ist eine Studie im Auftrag der Deutschen Versicherungswirtschaft betitelt. Selbstkontrolle! Glück klingt irgendwie anders.
Vollkornbrot essen, sich in Konsumverzicht üben und sparen für später – das ist allerdings erstens eine Klassenfrage und zweitens ein Rezept, das sich als unwirksam erweisen könnte, wenn das Leben anders spielt. Der fitnessgestählte und bioversorgte Körper kann genauso vorzeitig von Krebs befallen werden wie der Körper eines Menschen, der viel getrunken und geraucht hat.
Das sauer Verdiente nicht zu sparen, sondern lieber zwei Monate freizunehmen und die Radtour durch China zu machen kann zudem auch eine Form der mentalen Altersvorsorge sein, weil man damit wertvolle Erinnerungen schafft. Leave no regrets!, sagt die Glücksforschung. Es ist ein Rat, den auch Menschen mit lebensverkürzenden Krankheiten an ihre Freunde weitergeben.
Schlecht bezahlte Verschleißjobs
Sich in „Selbstkontrolle“ für die Altersvorsorge üben zu können ist auch eine Klassenfrage. Man muss die Zeit, die Kraft und das Geld haben, um ins Fitnessstudio gehen und allmonatlich Geld für später sparen zu können. Die Kraft haben Leute in schlecht bezahlten Verschleißjobs nicht, erst recht nicht, wenn sie im Schichtdienst ackern.
Der Appell zur individuellen „Selbstkontrolle“ ebnet die Klassenunterschiede nicht ein. Und die Illusion, die Zukunft kontrollieren zu können, schützt nicht vor dem Leben und dessen Ab- und Umbauprozessen. Diese zu akzeptieren erfordert eine ganz andere Form der Auseinandersetzung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht