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Kommentar WikileaksDer herausgeforderte Leser

Ines Kappert
Kommentar von Ines Kappert

Wikileaks gibt den LeserInnen die Freiheit zurück, als mündige DemokratInnen angesprochen zu werden. Und sorgt vor allem für Transparenz bei der Nachrichtenproduktion.

W ikileaks unberechenbare Veröffentlichungspraxis gibt der LeserIn ein Stück Freiheit zurück: die Freiheit, als mündiger Demokrat angesprochen zu werden. Journalisten adressieren ihren Käufer zumeist als mehr oder weniger müden Nachrichtenkonsumenten, der sich vor oder während der Arbeit schnell für die Konfrontation mit der Restwelt rüstet.

Grundsätzlich geht das auch in Ordnung - solange eingespielte Verfahren durchbrochen werden können. Solange die Routine - Journalist filtert und schleift Nachrichten, bis sie mundgerecht sind - beiden Seiten bewusst bleibt. Nun haben Routinen die lästige Angewohnheit, Vereinbarungen und Wissenskonstruktionen, also veränderliche Dinge, als naturgegeben, mithin unveränderlich auszuweisen. Demgegenüber maßt sich Wikileaks an, Öffentlichkeit auf ungewohnte Weise zu definieren, und grätscht böse in das allzu oft unhinterfragte Verhältnis Leser/Macher rein. Die Streitfrage lautet: Was muss die Öffentlichkeit wissen? Dabei akzeptieren die Leckschlager die Arbeitsteilung zwischen Politik, Journalisten und ihrem Publikum nicht und bringen mit ihrer Selbstermächtigung - wir bestimmen, was ihr veröffentlicht - ordentlich Schwung ins Getriebe.

Fünf Zeitungen bekommen einen riesigen und als geheim deklarierten Datenwust zugespielt und müssen zeigen, wie sie damit umgehen. Die Konkurrenz zwingt zu schnellem Handeln - daher kommt die Leserin plötzlich ganz nah ran, an die internationale Presse und an die Welt der internationalen Diplomatie. Sie kann verfolgen, wie Redaktionen aus Informationen Nachrichten basteln. Wie sie Daten filtern, wen sie schützen und wen sie angreifen. Es ist lehrreich und auch amüsant zu verfolgen, wie der Spiegel die Weltdiplomatie vor allem als Unterhaltungsstück zu deutschen PolitikerInnen aufbereitet, also gezielt entpolitisiert, hingegen der Guardian zurückgelehnt das politisch Brisante herausstellt: die Nahostpolitik der USA im Dialog mit den arabischen Staaten. In Frankreich interessiert sich Le Monde stark für die Aufnahmeverhandlungen der Regierung in Sachen Guantánamo-Häftlinge, und die New York Times verteidigt die Informationspflicht gegenüber Washington. Auch sie wertet den Streit um den Iran als zentral.

Bild: taz

Ines Kappert ist Leiterin des taz-Meinungsressorts.

Natürlich warnen Mahner jetzt vor der Überinformation der LeserIn. Selbst wer nur deutschsprachige Zeitungen liest, hat mitbekommen, dass die Eliten und die Journalisten erbittert darüber streiten, was die Öffentlichkeit wissen darf und was nicht. Der Weltfriede sei in Gefahr. Daran dürfte zwar nicht vorrangig der interessierte Leser schuld sein, aber so einfach lässt sich das Argument nicht wegwischen. Öffentlichkeit ist ein hohes Gut und sie kann eine Waffe sein. Demokratie funktioniert nur auf Basis von Transparenz - und braucht gleichzeitig die Möglichkeit zur Geheimhaltung. In diesem Spannungsverhältnis bewegen wir uns. Spannend ist nun, wie dieses vor den Augen der LeserIn neu austariert wird.

Stück für Stück präsentieren die nationalen Redaktionen neue Inhalte aus dem ehemals geheimen Datensatz. Journalisten und alle netzaffinen Leser verfolgen natürlich, was die Konkurrenz im Ausland enthüllt, die Deutungshoheit der nationalen Redaktionen steht auf dem Prüfstand. Öffentlichkeit wird tatsächlich international.

Das Schöne am Zeitungslesen und am Zeitungsmachen ist die unablässig genutzte Möglichkeit zur Korrektur. Keine Nachricht und keine Einsicht ist sakrosankt, sondern wird in aller Regel schon einige Stunden später (online) oder wenigstens am nächsten Tag (Print) relativiert, neu angereichert, in weitere Zusammenhänge gestellt: Eine Redaktion ist ein einziger Korrekturbetrieb.

Auch die jetzt vorgenommenen Einschätzungen der sensiblen Daten werden korrigiert werden. In dem Sinne zeigt Wikileaks einmal mehr, dass in der Presse zunächst einmal steht, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gedacht und gewusst wurde. In welchem Verhältnis das wiederum zur Wahrheit steht, muss immer wieder neu geprüft werden. Und was ist der Mehrwert dieser hehren Erkenntnis? Unruhe, Arbeit und die Freiheit, selbst zu denken, aufzuwachen.

Die Idee vom aufgeweckten Leser ist gefährlicher Populismus, sagen die einen. Sicher. Doch ohne sie gibt es keine Demokratie.

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Ines Kappert
Gunda-Werner-Institut
leitet seit August 2015 das Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung.   Mich interessiert, wer in unserer Gesellschaft ausgeschlossen und wer privilegiert wird - und mit welcher kollektiven Begründung.   Themenschwerpunkte: Feminismus, Männlichkeitsentwürfe, Syrien, Geflüchtete ,TV-Serien.   Promotion in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft zu: "Der Mann in der Krise - oder: Konservative Kapitalismuskritik im kulturellen Mainstream" (transcript 2008).   Seit 2010 Lehrauftrag an der Universität St. Gallen.
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5 Kommentare

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  • D
    Detlev

    Ist es nicht so, dass die meisten jetzt als neu definierten Meldungen in Wahrheit alte Kamelen sind? Neu ist doch nur, die konzentrierte Form. Wann hat man schon einmal die Berichte über und aus Afghanistan so konzentriert gelesen. Wer sich informieren wollte, konnte das auch vorher. Im Irak wurde gefoltert, getötet, gestorben. Und die schlimmsten Täter sind die Iraker gewesen. Die USA waren 'nur' Zuschauer, größtenteils. Ist das wirklich so neu?

     

    Und dann die angeblich so geheimen Berichte aus der Geheimwelt der Diplomatie. Wie kann man etwas als geheim bezeichnen, was beinahe 3,5 Millionen Menschen in den Archiven regelmäßig abrufen können.

     

    Dann Putins Einlassung. Will der Mann wirklich glauben machen, er und seine Dienste, hätten nicht gewusst, was westliche Diplomaten über ihn nach Hause berichten? Wenn es so wären, sollte er seine Dienste in Rente schicken.

     

    Wikileaks hält uns in einem allerdings wesentlichen Punkt den Spiegel vor, was vermutlich gar nicht deren Absicht war. Sie zeigen auf, dass die meisten Menschen sich wenig dafür interessieren, was auf der Welt vorgeht.

     

    Man zeigt aber auch den Mächtigen, dass sie sich vielleicht nicht mehr darauf verlassen können, dass es auch dabei bleibt.

  • AW
    aram winselt

    weshalb wird solchen meinungen hier eine plattform geboten ? mir völlig unverständlich gerade für eine zeitung wie die taz, aber die ist ja bekanntlicherweise auch nicht mehr weit davon entfernt in das grosse horn der schönen neuen neuen welt zu blasen. tätätä. taz abo abbestellt und ab jetzt nur noch den heimat observer online lesen. amen.

  • H
    Heinrich

    Wikileaks ist ein Segen für die Informationsgesellschaft. Künftig werden sich Medien daran messen lassen müssen, wie sorgfältig sie solche zur Verfügung gestellten Dokumente, auch da die meisten Redaktionen selbst nicht mehr journalistisch kompetent recherchieren, auswerten und dem Leser zur Verfügung stellen. Die aufklärerischsten Medien und besten Analysten werden die Gewinner sein.

  • A
    anke

    Sicher, Frau Kappert? Nein, sicher nicht!

     

    Populismus (lat.: populus, "Volk") bezeichnet eine um "Nähe zum Volk" bemühte Politik, die Unzufriedenheit, Ängste und aktuelle Konflikte für ihre Zwecke instrumentalisiert, indem sie Gefühle anspricht und einfache Lösungen vorstellt. Das jedenfalls behauptet das Lexikon. Und nun frage ich Sie, Frau Kappert: Was könnte wohl gefährlich sein an der Idee vom aufgeweckten Leser? Doch höchstens der Gedanke, dass ein Mensch, der wach ist, der liest und sich seine eigenen Gedanken macht, sich schlechter instrumentalisieren und schwerer für scheinbar einfache Lösungen begeistern lässt. Und für wen mag dieser Gedanke gefährlich sein? Richtig: Für die Populisten. Die nämlich dürfte er nicht nur einigermaßen beunruhigen, die könnte er unter Umständen sogar dazu verleiten, sich unfreiwillig als solche zu outen.

  • J
    jan

    Selten so fremdgeschämt.

     

    Statt vor der Erkenntnis, dass das tägliche Mediengeschwätz unüberbrückbar weit weg von aller Realität ist und dass Wikileaks nichts weniger als das Totalversagen der gesamten Nachrichtenbranche für alle Zeit dokumentiert hat, endlich in die seit ca. 1990 überfällige Sinnkrise zu rutschen, wird hier... (vom Leser selber auszufüllen, da ohne wenig schwache Ausdrücke nicht beschreibbar.)