Kommentar Türkei-Proteste: Hoffentlich tritt Erdogan bald ab
Bis zu den Wahlen 2011 hatte Erdogan immer wieder bei Gesellschaftskonflikten eingelenkt. Seitdem hält er Toleranz nicht mehr für nötig. Viele haben davon die Schnauze voll.
D ie Toleranz, von der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gestern sprach, und die für ihn jetzt beendet sei, hat er in Wahrheit schon seit Jahren nicht mehr gezeigt. Das ist genau das Problem in der Türkei. Seit Erdogan und seine AKP bei den letzten Wahlen 2011 nahezu 50 Prozent der Wählerstimmen gewonnen haben, glauben sie, Toleranz ist nicht mehr nötig.
Hatte es in den Jahren zuvor immer wieder einmal ein Einlenken bei gesellschaftlichen Konflikten gegeben, macht Erdogan inzwischen keinen Hehl mehr daraus, dass nur noch das Programm seiner islamischen Mehrheit zählt. Wir wollen eine religiöse Jugend heranziehen, verkündete er und setzte gegen jeden Widerstand eine Neuordnung des Schulsystems durch, indem jetzt die Kinder bereits nach dem 4. Schuljahr in die religiösen Imam-Hatip-Schulen wechseln können – Kopftücher bei Mädchen eingeschlossen.
Dann äußerte der große Vorsitzende seine Ablehnung von Abtreibungen. Abtreibungen seien unethisch und schwächten das Land, weil es mehr Kinder brauche. Abtreibung wurde erschwert, Kaiserschnitt nahezu verboten. Zu Kunst und Kultur hat Erdogan ebenfalls eine klare Meinung. Provokationen, wie sie noch an Staatstheatern zu sehen sind, gehören verboten. Alle Produktionen müssen künftig von Kulturaufsehern seiner Partei abgesegnet werden.
Zur Krönung lässt Erdogan auf dem höchsten Hügel Istanbuls die Fundamente für eine der größten Moscheen weltweit legen. Sie soll von überall in Istanbul sichtbar sein. Zu guter Letzt wurde ein äußerst repressives Alkoholgesetz durchgesetzt.
Genau diese repressiven, intoleranten und alle Lebensbereiche der Menschen durchdringenden Vorgaben der Regierung sind es, die aus den Protesten gegen die Abholzung der Bäume eines Parks einen landesweiten Aufstand gemacht haben. Viele Menschen haben einfach die Schnauze voll. Es liegt in der Natur der Regierung Erdogan, dass sie den Protest nicht begreift, sondern von einem ausländischen Komplott mit inländischer Beteiligung faselt.
Dieses Komplott niederzuschlagen, erscheint Erdogan nicht nur legitim und geboten, sondern als Akt der Selbstverteidigung. Es wird sich zeigen, wie lange ein Land wie die Türkei auf der Basis von Verschwörungstheorien regiert werden kann. Nicht lange, hoffentlich.
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