Kommentar Stuttgart 21: Vermittelbar bleiben
Die Bahnhofsgegner in Stuttgart stehen vor einem Dilemma. Sie protestieren gegen eine Landesregierung, die eigentlich auf ihrer Seite steht.
G roße Aufregung, Sachschäden, ein angeblich schwer verletzter Polizist, der ohne sichtbare Verletzungen nach einem Tag wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird: Die Nachrichten rund um die Stuttgarter Bahnhofsbaustelle klingen wie überall, wenn Großprojekte gegen den Willen der Bevölkerung durchgezogen werden sollen. Propaganda und Gegenpropaganda, beide Seiten denken, sie kämpften für die einzig gute Sache.
Doch Stuttgart 21 ist kein normales Großprojekt. Es ist ein Symbol wie nur wenige Orte; wie das Endlager in Gorleben etwa oder die Waldschlösschenbrücke in Dresden. In Stuttgart entscheidet sich gerade für einen ganzen Teil der Gesellschaft, was Protest bewirken kann und was nicht. Deshalb wird um jeden Baum zu Recht gekämpft, wird jeder kaputte Bagger beäugt wie ein Jahrhundertereignis.
Bei diesem Protest gibt es jedoch eine Asymmetrie der Waffen: Die Bauherren, also im Wesentlichen der Bahnchef und die Bundesregierung, haben es leichter als die Gegner. Denn sie haben über Jahrzehnte vorgearbeitet mit Hilfe der Stadtoberen von Stuttgart und der früheren CDU-Landesregierung. Sie haben komplizierte Verträge, die ihnen ein Baurecht einräumen. Ob und wie diese Verträge zu knacken sind, wird gerade getestet. Je mehr Fakten der Bahnchef in dieser Phase schafft, desto besser für ihn.
REINER METZGER ist stellvertretender Chefredakteur der taz.
Das erkennen die Protestierenden in Stuttgart und auch sie müssen deshalb schneller handeln. Die grün-rote Landesregierung ist dabei in der Klemme. Immerhin will sie Volksabstimmungen gewinnen, will für die Bürgerbeteiligung die Landesverfassung ändern. Sie muss also zumindest bis auf Weiteres versuchen, im bürgerlichen Baden-Württemberg mehrheitsfähig zu bleiben. Je militanter der Widerstand gegen Stuttgart 21, desto weniger ist er aber mehrheitsfähig.
Wer Bagger kaputt macht, zwingt die Regierung, auf Abstand zu gehen. Und zwar gerade einen grünen Ministerpräsidenten: Der steht immer unter dem Generalverdacht, dass er ein in der Wolle moderat gefärbter Militanter ist, der den Rechtsstaat seinen Zielen unterordnet. Das ist die offene Flanke von linken Politikern aller Art.
Die Landesregierung ist an Gesetz gebunden
Was folgt nun daraus? Natürlich muss es Widerstand gegen den Ausbau des Bahnhofs geben - warum sollte der aufhörten, nur weil eine Landesregierung wechselt. Aber der Widerstand darf nicht den Fehler machen, die Landesregierung als Gegner zu sehen, nur weil sie sich auf die Seite von besetzten Baufirmen stellt. Was soll sie sonst tun, die Regierung? Sie ist nun mal an die Gesetze gebunden.
Hier müssen die "Obenbleiber" eine Balance finden zwischen direkt wirksamem Protest und breitenwirksamer Propaganda. Im atomkritischen Wendland funktioniert das seit langem sehr gut. Militante Aktionen müssen in den Kontext des Protestes passen und ihn nicht aushebeln. Sie müssen den Bürgerlichen zu Hause auf dem Sofa zumindest im Ansatz vermittelbar sein.
Nach aller Erfahrung klappt das mit einem breiten Spektrum von Aktionen, von der Latschdemo bis zum teilweise heftigen, immer aber gewaltfreien Widerstand - also mit Aktionen, deren Propagandisten ein Gesicht haben und ihre Sache öffentlich vertreten können. Nicht mit anonymen Zerstörungen. Gewalt spielt den Durchgreifern und den Rechten in die Hände und nimmt einer grün-roten Landesregierung jeden Spielraum.
Die Aktionsgruppe "311", die am Montag die Grundwasseranlage besetzt hat, war so eine zwar nicht legale, aber gewaltfreie Aktion. Sie haben sich festnehmen lassen, sie haben keinen Polizisten geschlagen und sie haben keine Baumaschinen zerstört. Trotzdem gab es jemanden, der die Schäden angerichtet hat. Und hier tut sich die potenzielle Spalte auf: Ein paar politische Kamikazeaktivisten gibt es immer. Das hält eine Bewegung aus. Wenn sich aber ein ganzer Teil aus Frust in die Militanz zurückzieht, hat ein Aktionsbündnis einen schweren Stand. Das werden hoffentlich genügend Aktivisten einsehen.
Wie nun mit dem Fakten schaffenden Bahnchef umgehen? Hier steht im Juli der Stresstest für Stuttgart 21 an. Und die Prüfung der Verträge und Kosten. Hier muss die Landesregierung schneller werden und offen bleiben. Zum Antreiben der Regierung braucht es Aktivisten, nicht zum Abschrecken der neu geborenen Mutbürger im Ländle. Auch wenn man die Bahnhofsbauer noch so hasst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels