piwik no script img

Kommentar Soziale Proteste in BolivienOpfer der Entfremdung

Ralf Leonhard
Kommentar von Ralf Leonhard

Menschen mit Behinderung wollen eine bescheidene Monatsrente. Von der Regierung Morales wird sie verweigert – wegen eines gescheiterten Referendums.

Am vergangenen Donnerstag in La Paz Foto: ap

S eit zwei Monaten belagern jetzt über hundert Menschen mit Behinderung zwei Ecken von Boliviens Präsidentenpalast. Ihre Forderung nach ursprünglich 500, inzwischen nur mehr 250 Bolivianos als Monatsrente erscheint bescheiden. Das sind knapp über 30 Euro für ein etwas würdigeres Leben einer ohnehin weitgehend ausgegrenzten Minderheit.

Unzureichende medizinische Versorgung schon bei der Geburt, Verkehrsunfälle und gefährliche Arbeitsplätze sind die häufigsten Ursachen für bleibende körperliche oder geistige Schäden. Warum also stellt sich die Regierung so stur? Sie argumentiert mit einer guten Gesetzgebung, die auf Inklusion setzt, statt auf Mildtätigkeit.

Kinder sollen nach einem Gesetz aus dem Jahr 2010 – soweit möglich – in Regelklassen unterrichtet werden. Lehrer müssen die Gebärdensprache lernen, staatliche Stellen und Unternehmen müssen einen kleinen Prozentsatz Behinderter beschäftigen. Doch das Gesetz ist zahnlos und wird kaum befolgt. Nur 3 Prozent der behinderten Kinder besuchen tatsächlich reguläre Schulen, weitere 4 Prozent besuchen Sonderschulen.

Der Staat hat also eine Bringschuld. Und die kleine Monatsrente hätte nichts Karitatives. Sie helfe nur, die täglich durch höhere Transportkosten, geringeres Einkommen oder entgangene Verdienstmöglichkeiten entstehenden Nachteile gegenüber der Mehrheitsbevölkerung zu verringern, wie die Behindertenverbände argumentieren.

In Bolivien beobachtet man eine zunehmende Verhärtung der Regierung, seit Präsident Evo Morales im Februar ein Referendum verlor, das eine neuerliche Wiederwahl ermöglichen sollte. Bewegungen, die ihn früher unterstützten und jetzt wegen Korruption und gebrochener Versprechen auf Distanz gegangen sind, werden bestraft. Gut möglich, dass die Behinderten ein Opfer dieser Entfremdung der einst populären Regierung sind.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Ralf Leonhard
Auslandskorrespondent Österreich
*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.
Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Kaffeesatzleserei, oder was? Die Entfremdung passiert automatisch wenn man sich einer perfiden Kampagne anschließt, die zur Ablehnung der Amts-Verlängerung geführt, und sich hinterher als bloße Verleumdung, von einer korrupten Opposition gekauften Zeugen herausgestellt hat. Das wäre berichtenswert, Mr. Leonhard.