Kommentar Sieg der Ukraine beim ESC: Spiegel europäischer Befindlichkeiten
Die ESC-Siegerin hat die europäische Nervosität zum Ausdruck gebracht: Rechtspopulismus, autokratische Gesinnungen und Nationalismen.
D er letzte Satz von Jamala als Siegerin beim Eurovision Song Contest war sprechend für diese Show: Danke, Europa. Sie muss damit auch Russland gemeint haben, denn bei der Zuschauerabstimmung hat sie ja auch die zweitmeisten Stimmen aus Russland bekommen.
So oder so: Es war ein Triumph einer besonderen Performance. Jamala gewann mit einer ästhetisch perfekt dargebotenen Erzählung namens „1944“. Sie handelt von der eigenen Familiengeschichte, der stalinistischen Vertreibung der Krimtataren vor 72 Jahren in den Hungertod, nach Vorderasien, vom Holocaust, von der Verfolgung muslimischer Bürger_innen. Und sie spricht insofern auch vom Heute, von der russischen Okkupation der Krim vor zwei Jahren.
Russische Medien mögen klagen, dass ihr Kandidat, der sympathische Sergej Lazarev das Nachsehen hatte. Ein dritter Platz ist freilich auch schön, besser als der letzte für die ARD-Kandidatin Jamie-Lee. Dieser ESC war insofern ein besonders scharf aufgestellter Spiegel europäischer Befindlichkeiten: Wichtige, aber doch Allerweltsthemen wie Liebe und Schönheit hatten sich mit schlechten Rängen am Ende zu bescheiden.
Der ESC hat, zwei Jahre nach dem Triumph Conchita Wursts, die nächste Heldin hervorgebracht. Jamala, famose Sängerin, hat die europäische Nervosität – Rechtspopulismus, autokratische Gesinnungen, Nationalismen – zum Ausdruck zu bringen vermocht. Der ESC im kommenden Jahr in der Ukraine wird diese politischen Unbehaglichkeiten mehr denn je thematisieren – wollen. Russland möge kommen: Europa hat nichts gegen friedliche Kulturangebote.
Im Übrigen möge die stärkste politische Integrationsleistung demokratisch-kultureller Art des ESC nicht übersehen bleiben: dass Deutschland von 1956 an mitmachen durfte. Elf Jahre nach dem Nationalsozialismus, nach dem Holocaust, nach der Wehrmacht. Jamalas Lied macht möglich, diese alten Geschichte wieder aus dem Vergessen zu holen.
Jan Feddersen, Autor von Büchern zum ESC, schreibt regelmäßig für die Eurovision-Webseite des NDR.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau