piwik no script img

Kommentar Räumung des „Dschungels“Mission erfüllt, Desaster perfekt

Kommentar von Tobias Müller

Die Operation ist beendet, das Flüchtlingscamp wurde geräumt. Die Behörden feiern ihre logistische Leistung – dazu besteht jedoch keinerlei Anlass.

Einer der Flüchtlinge von Calais bereitet sich für die Nacht auf Freitag vor. Er wird wohl draußen schlafen müssen Foto: reuters

E s war ein geradezu bizarrer Moment als Fabienne Buccio, die zuständige Präfektin, vor die Kameras trat und diesen haarsträubenden Satz aussprach: der „Dschungel“ von Calais sei leer, und die Mission seiner Räumung damit erfüllt. Zahlreiche Agenturen, scheinbar ohne Möglichkeit, die Situation vor Ort selbst in Augenschein zu nehmen, übernahmen diese Nachricht, was in den Weltmedien ein enormes Echo fand. Der „Dschungel“ geräumt, und das in nur drei Tagen.

Nur Stunden zuvor war Buccio selbst noch durch das Lager gestiefelt. Möglich, dass Rauch und Gestank der permanenten Brände dabei ihre Wahrnehmung trübten. Falls nicht, muss sie gesehen haben, dass sich dort noch Hunderte Menschen aufhielten. Vielleicht war aber auch der Wunsch der Vater ihrer Aussage. Wie dem auch sei: in einem einzigen Satz machte die Präfektin aus dem Soll- den Ist- Zustand, um sogleich einen Strich unter das Kapitel zu ziehen. Mission erfüllt.

Die Konsequenzen zeigten sich noch in der Nacht: mindestens 60 Minderjährige, die keinen Schlafplatz hatten und zwischen „Dschungel“ und Abfahrtsstelle der Busse im Freien schlafen mussten. Bis nach Mitternacht waren Hilfsorganisationen damit beschäftigt, Schlafplätze für die Jugendlichen zu finden. Die deutliche Botschaft: Wenn die Chefin die Mission für erledigt erklärt, wird auch kein Handschlag mehr getan.

Am nächsten Morgen folgte ein weiterer Akt dieses Desasters: Hunderte Menschen, die sich nun entschlossen, einen Bus in eines der staatlichen Zentren zu nehmen, liefen vergeblich zur Abfahrtsstelle. Es gab schlicht keine Busse mehr.

Über die Räumung des „Dschungels“ kann man geteilter Meinung sein. Das Zerstören einer Behausung ist eine grobe Verletzung elementarster Menschenrechte. Auf der anderen Seite gibt es an den Lebensumständen dort rein gar nichts zu beschönigen, und das Verklären des Camps zu einem sozialen, gar utopischen Projekt ist bedenklich. Dass die Räumung allerdings solche drastischen Folgen hat und diese schulterzuckend in Kauf genommen werden, unterstreicht nur den Zynismus, der aus ihrem offiziellen Namen spricht: „Operation Bergung“.

Ein Detail macht im Nachhinein stutzig: In den Presseerklärungen der Behörden wurde zuvor ein sehr konkretes Schema samt Zahl der Busse und Passagiere genannt, nach dem die Bewohner des Camps abtransportiert werden sollten. Dieses Kontingent reichte von Montag bis Mittwoch. Es scheint fast, als hätte man von Anfang an gewusst, wann der „Dschungel“ leer zu sein hat. Und wer dann immer noch darin ist, kann selbst zusehen, wie es weitergeht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • 1G
    12294 (Profil gelöscht)

    "und das Verklären des Camps zu einem sozialen, gar utopischen Projekt ist bedenklich"

     

    Ach neee - vor zwei Tagen habe ich in einem Kommentar genau dies moniert. Aber da wollte man das wohl nicht hören. Na schön, dass Sie noch selbst drauf gekommen sind, liebe taz!

  • Man könnte fast meinen, es seien Warenlieferungen und keine Menschen mit Hoffnungen, Träumen, Wünschen, Bedürfnissen...

     

    Wenn man sich jedes Schicksal vor Augen ruft, kommen einem die Tränen.