Kommentar Prozess um Polizeigewalt: Knüppel-aus-dem-Sack-Politik
Die Gewalt gegen Demonstranten in Stuttgart war ein Schub für das demokratische Bewusstsein. Zu selten wird Beamten der Prozess gemacht.
![](https://taz.de/picture/104653/14/14062605_schwarzerdonnerstag_dpa_web.jpg)
D er schwarze Donnerstag von Stuttgart vor vier Jahren wirkt nach. Es war einer dieser seltenen Tage, der Bilder hervorbrachte, die in den Köpfen hängen bleiben und am Ende eine Gesellschaft reifer machen: Als am 30. September 2010 die Stuttgarter Polizei friedliche Demonstranten gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 mit Wasserwerfern aus dem Schlossgarten fegte, ist auch dem letzten politisch passiven Schwaben aufgegangen: So springt ihr nicht mit uns um. Diese Art von selbstherrlicher Politik wollen wir nicht. Ein Schub fürs demokratische Selbstbewusstsein.
Dienstag beginnt in Stuttgart der Prozess gegen zwei Einsatzabschnittsleiter der Polizei, denen fahrlässige Körperverletzung im Amt vorgeworfen wird: Die Wasserwerfer vor vier Jahren waren so hart eingestellt, dass sie mindestens neun Demonstranten verletzten; ein Mann verlor fast seine komplette Sehkraft. Die Beamten sollen Befehle der Polizeispitze, die Wasserwerfer im vergleichsweise harmlosen Regenmodus einzusetzen, nicht weitergeleitet haben.
Es ist ein Fall, der ans Licht bringt, was sonst unter der Überschrift „Selbst schuld ihr Chaoten“ die breitere Öffentlichkeit kaum kratzt. Bei aller Tragik angesichts der Verletzten in Stuttgart: Wahrscheinlich gibt es Hunderte von vergleichbaren Fällen, bei denen Polizisten rücksichtslos mit Wasserwerfern auf Menschenmengen halten, knüppeln und Tränengas sprühen.
Meist hält sich die Empörung in Grenzen. Selbst schuld, wer auf so eine Demo geht. Waren doch Chaoten dabei. Auch wenn sich am Ende herausstellt, dass die beiden Beamten unschuldig sind: Der Stuttgarter Prozess artikuliert das große, in Deutschland kaum wahrgenommene Problem versteckter Polizeigewalt. Die deutsche Polizei genießt einen so guten Ruf, dass Politiker eher Demonstranten kriminalisieren, als Staatsbeamten überzogene Gewaltanwendung vorzuwerfen.
Was der Prozess juristisch nicht aufarbeitet, ist die Frage, ob die damalige Landesregierung unter dem CDU-Politiker Stefan Mappus den Protest mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln schlicht niederschlagen wollte: Erst Polizei hart vorgehen lassen, dann hinterher behaupten, dass es die Chaoten waren. Ob dem so war, klärt gerade der zweite Untersuchungsausschuss im Landtag. Die Zivilgesellschaft jedenfalls hat ihr Immunsystem gegen diese Art von Gesetz-und-Knüppel-Politik gestärkt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Überraschung bei U18-Wahl
Die Linke ist stärkste Kraft
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Absturz der Kryptowährung $LIBRA
Argentiniens Präsident Milei lässt Kryptowährung crashen