Kommentar Proteste in Frankreich: Keine Protestfolklore
Aus dem Widerstand gegen die Rentenreform in Frankreich ist längst ein Kampf um echte Demokratie geworden. Daraus können die europäischen Nachbarn lernen.
F rankreich ist ja wieder mal ganz toll", schimpfte mit verhaltener Wut gestern ein Tourist in Marseille. Da Demonstranten die Zufahrt zum regionalen Flugplatz blockierten, musste er mehrere hundert Meter zu Fuß zurücklegen. Ein Land, in dem wegen Streiks alle Räder stillstehen, in dem die Leute für ihre Anliegen demonstrieren und sich auch mit Polizisten raufen, das passt ins europäische Klischee von den seit Gallierzeiten streitsüchtigen Bewohnern Frankreichs.
Was sich zurzeit hier abspielt, hat jedoch mit Folklore herzlich wenig zu tun und lädt mehr zum Nachdenken ein als zum amüsierten Schmunzeln. Auch vorschnelle Urteile im Stil "Wir können erst mit 67 in Rente, und die Franzosen wollen das Rentenalter 60 verteidigen?!"greifen zu kurz. Warum sollten sie ohne vorherige Verhandlung eine "Reform" akzeptieren, die nicht einmal im Programm des gewählten Präsidenten stand, sondern auf die Schnelle aus Angst um die Kreditwürdigkeit des französischen Staates entworfen wurde?
Bei diesem Konflikt liefern die Franzosen und Französinnen den Beweis, dass es möglich ist, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wenn eine arrogante Staatsführung über ihre Köpfe hinweg eine Entscheidung trifft, die sie für zutiefst ungerecht halten. In wohl keinem vergleichbaren Land haben die Leute so sehr wie in Frankreich das Gefühl, die Demokratie sei zu einer routinemäßig funktionierenden Maschine geworden, die sich um die Beteiligung der Bürger einen Dreck schert, solange es nicht zur großen Panne kommt wie jetzt.
Mit ihrem Widerstand gegen eine von einer großen Mehrheit als Willkür empfundene Politik der sozialen Ungerechtigkeit liefern die Franzosen den Nachbarn ein Beispiel - auch wenn sie am Ende eine Niederlage einstecken sollten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu